Kontroverse Filme in der Diskussion (3): We need to talk about Kevin

Tilda Swinton We need to talk 2

Die einst erfolgreiche Schriftstellerin Eva steht vor den Scherben ihres Lebens: Die Nachbarn beschimpfen oder schlagen sie ins Gesicht, von der Liebe ihres Mannes ist nichts mehr übrig und ihr Sohn Kevin konnte sie anscheinend noch nie leiden! Was ist nur los mit dieser Frau? Warum wird sie nur so behandelt?

Um der Ursache auf den Grund zu gehen wird der Fokus auf das Mutter-Sohn-Verhältnis gelenkt. Die Zeitspanne umfasst Rund 15 Jahre, von der Geburt ihres Sohnes bis ins Jugendalter. Schnell wird deutlich, dieses Kind ist nicht nur laut und pariert schlecht, es ist ein Kind wie man es nicht mal seinen schlimmsten Feinden wünscht. Trotzdem begegnet sie ihrem Erstgeborenen mit einer engelsgleichen Geduld, wo Andere schon längst aufgegeben hätten. Die Liebe dieser Mutter scheint stärker, doch irgendwann kommt der Zeitpunkt da muss auch sie sich eingestehen, dass das Band, dass Eltern mit ihren Kindern verbindet mit Wut und Verzweiflung durchtränkt ist…

 Lynne Ramsey wagt sich an ein Tabu-Thema heran und setzt dieses kongenial um. Eltern, so sagt der Volksmund, lieben immer ihre Kinder, egal was sie machen und umgekehrt. Sie umgibt ein „magisches Band“, was sie zusammenhält. Doch was was tun, wenn diese Gefühle nicht oder nur bedingt existieren? Ist man dann eine Rabenmutter oder gibt es dort auch Grenzen? Kinder spielen oft ihre Eltern gegeneinander aus um ihren Willen zu bekommen, dass ist wohl normal. In Zeiten von der Super-Nanny werden im Fernsehprogramm besonders gestörte Familienverhältnisse und Satansbraten gezeigt, doch was uns in „We need to talk about Kevin“ gezeigt wird, lässt wohl jeden an seine psychischen Grenzen kommen. Die Wahrheit ist so grausam, die Inszenierung so brillant, dass das Werk noch Stunden, wenn nicht sogar Tage nachwirkt.

Eine Kritik ohne inhaltlich zu sehr in die Tiefe zu gehen, ist bei diesem Film nahezu unmöglich, bietet er vielfältige Diskussionsgrundlagen, die im Anschluss an diese Kritik gerne näher betrachtet werden sollen. Formell ist der Film großartig. Zugegeben die ersten 30 Minuten sind etwas sperrig, weil alles noch sehr vage und das große Ganze angedeutet bleibt, um dann einen Schockmoment an den Nächsten zu reihen, ohne dem Selbstzweck zu verfallen. Oscarpreisträgerin Tilda Swinton (Michael Clayton) zählt seit Jahren zu meinen Lieblingsschauspielerinnen, weil sie wie kaum eine Andere vollkommen mit ihren Figuren verschmilzt, immer wieder aufs neue sich nicht scheut auch die Abgründe ihrer Figuren zu offenbaren und Film für Film eine Bestleistung nach der Anderen abliefert. Für „We need to talk about Kevin“ war sie Kritikerliebling und erhielt Golden Globe-, Screen Actors Guild- und BAFTA-Nominierungen, den Europäischen Filmpreis und National Board of Review als „Beste Darstellerin“ und wurde von der Academy trotzdem sträflich übergangen! Hier liefert sie mit „Julia“ ihre Karrierebestleistung ab und schafft es ihren Charakter gleichermaßen unsympatisch anzulegen und trotzdem als Identifikationsfigur Sympathien zu wecken.

Tilda Swinton We need to talk

John C. Reilly spielt den liebevollen Vater, der in meiner Betrachtung der Antagonist des Filmes ist, weil er alle Anzeichen ignoriert, die heile Welt nach außen hin verkörpern möchte und Kevin keine strenge Hand bietet, die dieser so nötig gehabt hätte. Dieser Film ist kaum etwas für schwache Gemüter, denn der Horror die sich hier langsam breit macht, kann jederzeit passieren, die Charakterzeichnung der hervorragenden Darsteller, allen voran Tilda Swinton und Newcomer Ezra Miller (Empfehlung: Vielleicht lieber morgen, OT: Perks of being a Wallflower) spielen sich die Seele aus dem Leib und liefern oscarwürdige Leistungen ab. Die schwierige Aufgabe aus der beachtlichen literarischen Vorlage, welche fast ausschließlich aus Briefen von Eva an ihren Mann besteht, ein filmisches Denkmal zu setzen, ist mit minimalen Abstrichen im ersten Teil schockierend gelungen. Bild, Ton, Musik von Jonny Greenwood und Schnitt bilden eine intensive homogene Einheit um die Schuldfrage herum: „Wie konnte es nur soweit kommen?“ Ein beachtliches und zugleich verstörendes Werk, dass man unbedingt mal gesehen haben sollte und noch lange nachwirkt! So muss Kino sein!


UK / USA – 2011 – 1 Std. 50 Min.
Regie: Lynne Ramsey
mit Tilda Swinton, John C. Reilly & Ezra Miller
Genre: Drama

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