Rosetta

Die prägnanteste Stelle in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika ist wahrscheinlich die in der Präambel verankankerte Pursuit of Happiness, also das Bestreben nach Glückseligkeit. Mehr möchte auch die titelgebende Hauptfigur im Sozialdrama der Gebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne aus dem Jahr 1999 nicht: Einen Job, vielleicht einen Freund, in der Gesellschaft anerkannt sein und ihren Beitrag zu eben dieser Glückseligkeit leisten. Aber es ist ein tristes Bild dass Jean-Pierre und Luc Dardenne im Belgien kurz vorm dem großen Millenium zeichnen: Die wichtige Eisen- und Stahlindustrie liegt in den letzten Zügen und der Jugend offenbart sich ein hoffnungsloses Bild von der Zukunft. Rosetta verliert nicht nur in der Probezeit ihren Job, sondern muss ebenfalls mit ihrer alkoholkranken Mutter klar kommen, während ihr Leben in einer Wohnwagensiedlung kurz davor steht eine Klippe herunterzustürzen.

Über 90 Minuten können wir den Kampf von Rosetta miterleben: Für Anerkennung, für Respekt, einen Job und einen Funken Glück, also alles Sachen die eigentlich selbstverständlich sein sollten in einer Gesellschaft, aber immer mehr in den Hintergrund zu rücken drohen. Vor allem aber sehen wir sie in dem gesamten Film nur einmal kurz lächeln oder zumindest soetwas wie Glück empfinden: Als sie ihren ersten Tag als Waffelverkäuferin hat, eine Stelle die sie durch Verrat an der einzigen Person erhalten hat, von der sie eine helfende Hand gereicht bekommen hat. Den kompletten Rest des Films zeichnet sich auf ihrem Gesicht Zorn, Verzweiflung und Wut auf die Gesellschaft die der Jugend keine Chance gibt, auf ihre Mutter von der sie sogar in einen schlammigen Teich gestoßen wird und dort fasst ertrinkt und auch in gewisser weise auf sich selbst.

Die Gebrüder Dardenne inzinieren ihre Sozialstudie über die Suche nach Arbeit – wie auch 15 Jahre später in Zwei Tage, eine Nacht mit Marion Cotillard – fast schon dokumentarisch: In den jeweiligen Szenen gibt es nur selten Schnitte und die Kamera von Alain Marcoen ist dabei mehr Beobachter als Kontrollwerkzeug die vorgibt wie sich der Zuschauer fühlen und was er jetzt empfinden soll. Der Fokus liegt dabei ganz auf den Figuren und vor allem das Gesicht von Rosetta sehen wir oft im Fokus mit ihren Beobachtungen und Reaktionen auf die jeweilige Umgebung. Dass der Film dabei keine musikalische Untermalung hat, verstärkt den Dokumentationsstil noch.

Der schauspielerische Fokus liegt dabei natürlich ganz auf Émilie Dequenne die mit damals 17 Jahren ihr Debüt als Schauspielerin gab. In jeder Szene kann man die pure Energie von ihr spüren: Ihre Wut und ihren Zorn, ihre Verzweiflung und ihr flehen nach einem besseren Leben und einer Perspektive. Daneben kann sich noch Fabrizio Rongione als einziger positiver Bezugspunkt im Leben von Rosetta auszeichnen und wie über ein Jahrzent später in Zwei Tage, eine Nacht meistert er dies Rolle des Riquet mit seiner ganz einen Art von Zuneigung und Respekt der weiblichen Hauptfigur gegenüber. Wenn Rosetta – die bei ihm übernachten könnte und die Riquet in einer vorhergegangen Szene aus dem Teich rettet – ihn bei seinem Chef anschwärzt weil er unter der Hand Waffeln verkauft – und ihr kurz davor sogar angeboten hat eben dieses Geld jeden Tag zu überlassen – kann man in seinem Gesicht die blanke Enttäuschung über das Handeln von Rosetta förmlich ablesen; und trotzdem gibt er sie am Ende, wenn Rosetta unter ihre Last und permanten Enttäuschungen weinend zusammenbricht, nicht auf. Das Ende hat sogar fast etwas reinigendes für die Seele von Rosetta: Nachdem sogar der Versuch eines Freitodes mit ihrer Mutter und der Hilfe von Gas in ihrem Wohnwagen nicht funktioniert, realisiert Rosetta endlich dass sie Riquet gegenüber ihren Schutzpanzer aus Wut und Zorn ablegen muss.

Rosetta gewann 1999 bei den 52. Internationalen Filmfestspiele von Cannes mit Jurypräsident David Cronenberg nicht nur die Goldene Palme als bester Film – verwies dabei heutige Klassiker wie 8 1/2 Frauen, Alles über meine Mutter, Ghost Dog – Der Weg des Samurai, Kikujiros Sommer und The Straight Story auf die Plätze – und den weiblichen Darstellerpreis für Émilie Dequenne – neben Séverine Caneele für Humanität -, sondern reformierte auch mit dem Rosetta-Plan den belgischen Arbeitsmarkt und ebnete damit den Weg für eine bessere Jobsituation der Jugend.

Mit ihrem fünften Realfilm nach sechs Dokumentationen gelang Jean-Pierre und Luc Dardenne ein wuchtiger und zu Herzen gehender Blick auf das Leben am Rande der Hoffnungslosigkeit der von Hauptdarstellerin Émilie Dequenne mit viel Einsatz und Hingabe vermittelt wird.

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