Raum (OT: Room)

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Wer mich kennt, weiß, dass jedes Jahr aufs Neue das Feld der Hauptdarstellerinnen für mich die mit Abstand interessanteste Filmpreiskategorie darstellt und aus diesem Grund musste ich mir ebenjenen Film, für den Brie Larson in der letzten Nacht den „Golden Globe“ gewann, aus Gründen der zunächst (skeptischen Neugier) zu Gemüte führen. Schlussendlich war es jedoch bei Weitem nicht nur ihre Leistung, die mir zeitweise den Atem verschlug. Diese kanadisch-irische Produktion tritt nämlich primär mit Erfolg den Beweis an, dass es manchmal weder eines aus unzähligen Darstellern bestehenden Ensembles oder aufwendiger Effekte und Ausstattungselemente noch überinszenierter, dramaturgischer Wendungen bedarf und überdies, dass man über manche Filme vorab so wenig wie nur möglich wissen sollte.

2

Abrahamsons Independentfilm beschreibt die extraordinäre, bestsellerbasierte und in vielen Belangen verstörende Geschichte einer Mutter und ihres kleinen Sohnes, in denen sich Sujets wie Weltfremdheit, seelische und körperliche Gewalt, die Unfähigkeit des Zurechtfindens in der Außenwelt sowie vor allem eine bedingungslose, aufgrund der Umstände tief verwurzelte Bindung in Reinform und mit allen emotionalen Konsequenzen entfalten können, ohne dabei ein Motiv wie Provokation im Schilde zu führen. Parallel zu dem handlungsbestimmenden, klaustrophobischen Raum ist auch das filmische Resultat klein und aufgrund der Involvierung zweier geschundener Existenzen sperrig und zunächst kühl anmutend, allerdings vielleicht aus diesem Grund nicht minder durchschlagskräftig und psychologisch dicht. Selten zuvor hat man sich innerhalb eines Drehbuchs derart einschneidend mit den seelischen Wunden der Akteure auseinandergesetzt, wozu auch die in jederlei Hinsicht ungekünstelten Dialoge beitragen. Einziger Kritikpunkt ist der Umstand, dass einige Kürzungen dem Werk zu noch größerer Expressivität verholfen hätten, dennoch erachte ich die beiden Filmhälften einander ebenbürtig. Darüber hinaus greift vor allem die sparsame, aber wohldosierte, technische Gestaltung mithilfe einer perfekten, wenn auch gewöhnungsbedürftigen Kamera- und Schnittarbeit, die dem Zuschauer gestattet, aus nächster Nähe an den inneren Qualen und Kämpfen der Protagonisten Anteil teilzuhaben und trotz zeitweiliger Aktionsarmut eine stellenweise beinahe nicht ertragbare Spannung kreiert.

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Die schauspielerische Interaktion von Brie Larson und dem zum Zeitpunkt des Drehs gerade einmal 8-jährigen Jacob Tremblay ist das Herzstück des Werks und kann schlicht und ergreifend nur als so überragend bezeichnet werden, dass man vor beiden den Hut ziehen möchte. Während ich kein begeisterter Anhänger von „Short Term 12“ gewesen bin, muss ich mich nun fragen, woher Larson die Intensität und Authentizität für die Verkörperung dieser herausfordernden und facettenreichen Figur bezogen hat. Und auch Tremblay zeigt eine unglaublich echte und zutiefst berührende Darstellung, welche für mich eine der stärksten Kinderperformances seit Anna Paquins Oscarsieg gehört. Man kann deswegen nur hoffen, dass der Junge begriffen hat, dass es sich „nur“ um ein Schauspiel gehandelt hat. Des Weiteren vermögen William H. Macy und speziell Joan Allen in der zweiten Hälfte des Films binnen weniger Minuten überdeutliche Ausrufezeichen zu setzen.

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Dass gerade die häufig starbesessene und Blockbuster liebende „Hollywood Foreign Press“ die Produktion gleich dreifach nominierte und gestern die nervenzerreißend gute Hauptdarstellerin bedachte, muss genau deswegen fast schon als regelrechte Sensation bezeichnet werden und ist hochverdient. Schätzungsweise wird der Querschnitt der Bevölkerung sich vor der Art der Inszenierung wie so oft verschließen, was besonders schade erscheint, denn „Raum“ ist die vielleicht intensivste und unkonventionellste Filmerfahrung dieser Saison, die hoffentlich auch mehrere Oscarnominierungen verbuchen kann und einen insbesondere nach unvoreingenommener Sichtung intentioniert hilflos zurücklässt und vor allem ein Gefühl nachwirkend evoziert: Aufwühlung.

CA / IE 2015 - 117 Minuten Regie: Lenny Abrahamson  Genre: Psychodrama   Darsteller: Brie Larson, Jacob Tremblay, Joan Allen, William H. Macy, Sean Bridgers, Megan Park, Cas Anvar, Amanda Brugel, Joe Pingue, Tom McCamus
CA / IE 2015 – 117 Minuten
Regie: Lenny Abrahamson
Genre: Psychodrama
Darsteller: Brie Larson, Jacob Tremblay, Joan Allen, William H. Macy, Sean Bridgers, Megan Park, Cas Anvar, Amanda Brugel, Joe Pingue, Tom McCamus
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