Victoria & Abdul

Zugegebenermaßen befindet sich die aktuelle Filmpreis-Saison noch im symbolischen Stadium eines Kokons, dennoch entwickelte sich langsam eine latente Sehnsucht nach einem besonderen Filmbeitrag, der sowohl den Intellekt, die Körpersinne als auch das Herz in gleichem Maße zu erfreuen vermag. Nach einem diesbezüglich entbehrungsreichen Sommer gelang diese schwierige Aufgabe nun endlich einem Werk „made in Britain“, dessen Premiere ich mir bereits vor Veröffentlichung des ersten Trailers im Terminkalender feuerrot angestrichen habe und aus mehreren Gründen eine hohe Erwartungshaltung generierte. In Gestalt der inzwischen dritten Zusammenarbeit von Dame Judi Dench und Regie-Ass Stephen Frears schlüpft Erstgenannte ein weiteres Mal in die großen Fußabdrücke von Königin Victoria (1819 – 1901), die einem gesamten Zeitalter der ökonomisch-kulturellen Blüte den Namen verlieh und das Empire unfassbare 63 (!) Jahre regierte. Roman- und tatsachenbasiert, entführt Frears, der im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig einen Sonderpreis für seinen außergewöhnlichen Beitrag zur Innovation des zeitgenössischen Kinos erhielt, das Publikum mit seiner inzwischen 23. Regierarbeit zurück in das scheidende 19. Jahrhundert und kreierte eine erlebnisreiche Mischung verschiedener Genres, welche sich nicht nur von unbändiger Stilsicherheit, schöngeistigen Witz und einem erfrischenden Ensemble getragen wird, sondern auch ungeahnte, zutiefst berührende Gegenwartsrelevanz ausstrahlt, die seine rundum gelungenen Vorgängerwerke „Philomena“ und „Florence Foster Jenkins“ letzten Endes auf die Plätze verwies.

„Victoria & Abdul“ setzt inhaltlich ebenda an, wo „Ihre Majestät Mrs. Brown“ seinerzeit endete und schildert die letzten anderthalb Lebensjahrzehnte der nunmehr als Kaiserin von Indien auf dem Machtzenit stehenden und über ein Viertel der damaligen Menschheit herrschenden Monarchin, die als Witwe jedoch zunehmend weniger Lebensfreude empfindet und ihren jeweiligen Audienzen eher überdrüssig und unbeteiligt folgt. Dies ändert sich jedoch abrupt, nachdem sie Bekanntschaft mit dem jungen, muslimischen Inder Abdul macht, der sie schließlich als „Munshi“ in Sprache, Gepflogenheit und Kultur des Subkontinents unterrichtet und ihr unversehens näher kommt als jeder andere. Wenngleich der ungewöhnlich inszenierte Auftakt sofort damit kokettiert, „mehr oder weniger“ von wahren Ereignissen zu sein, so stellt der feinfühlige Einblick in die Vita doch ein Fest für all jene dar, denen historische Authentizität ein besonderes Anliegen darstellt, ohne sich dabei in den komplizierten, politischen Sphären zu verlieren. Die gegen höfische Etikette und das persönliche Naturell der Königin gleichermaßen im scheinbaren Widerspruch stehende Freundschaft dürfte wohl selbst Geschichtsfans zutiefst überraschen, wurde jedoch anhand von Dialogen mit angenehm moderndem Touch faktenorientiert und äußerst nachvollziehbar skizziert. Eine von einigen Kritikern vorgeworfene „Weißwaschung“ der Kolonialgeschichte oder gar eine romantische Verklärung lässt sich auch mit kritischstem Blick nur in äußersten Ansätzen erkennen, denn insbesondere durch das Aufbegehren des Umfeldes von Victoria gegen den „Affront“ wird die damalige Arroganz der Briten eindeutig zutage gefördert, während der unterhaltsame und augenzwinkernde, gleichwohl substantielle Diskurs der beiden verschiedenen „Bediensteten“ mannigfache Parallelen zum heutzutage immer größere Bedeutung erlangenden, interreligiösen Dialog herstellt. Aus diesem Grund wandelt sich das Porträt schrittweise vom heiteren Lehrstück zum humanistisch beseelten, psychologisch dichten und ungeahnt berührenden Drama rund um Klassenunterschiede und Chauvinismus. Die an Originalschauplätzen entstandene Inszenierung überzeugt zudem aufgrund einer fokusreichen, eleganten Kameraarbeit, erlesenen Kulissen und zeittypischen Roben vollends, dennoch stellt die optische Aufmachung erfreulicherweise eher schmückendes Beiwerk dar als zum unmittelbaren Herzstück zu avancieren. Angesichts von Thomas Newmans herausragendem Soundtrack muss man sich des Weiteren erneut in aller Ernsthaftigkeit fragen, warum dieses Genie noch immer oscarlos ist, denn die gebotenen Arrangements zeichnen sich ebenfalls durch perfektes Timing und ungemeines Feingefühl für die jeweiligen Szenen aus, die wiederum keinerlei Zimmer’schen Fanfaren bedürfen.

Ein überaus stimmiges, aus vielen geadelten, britischen Darstellern und mehreren Newcomern bestehendes Ensemble trägt letztlich dazu bei, den Zweistünder in vollen Zügen genießen zu können. Nach ihrer zu Unrecht ungewürdigt gebliebenen Darstellung in „Mrs. Brown“ durfte Judi Dench erneut in die Rolle der Monarchin schlüpfen und es wirkt beinahe so, als wäre sie von der verkörperten Regentin nie getrennt worden. Trotz ihrer fortschreitenden Erblindung brillierte sie meisterhaft und zugleich mit grenzenloser Würde darin, die herausfordernde und vielschichtige Persönlichkeit erneut mit unbändigem Leben zu füllen und dennoch voll und ganz zu der Ihrigen werden zu lassen. Mit scheinbarer Leichtigkeit offenbart sich nahezu jede Facette ihres Könnens, das man schlicht und ergreifend in einer ganz eigenen Kategorie schauspielerischer Kunst einordnen muss. Analog zur Personenkonstellation gelang es dem verhältnismäßig leinwandunerfahrenen Ali Fazal, neben der allumfassenden Präsenz seines weiblichen Gegenparts zu bestehen und das Publikum mithilfe seiner Warmherzigkeit rasch auf seine Seite zu ziehen. Schlussendlich lieferten auch der ehemalige „Dumbledore“-Darsteller Michael Gambon als Premierminister und ganz besonders Eddie Izzard in der Rolle des missgünstigen Thronfolgers Edward, genannt „Bertie“, sehenswerte Akzente.

Seit Donnerstag darf „Victoria & Abdul“ in den Lichtspielhäusern der Bundesrepublik bewundert werden – und diese Gelegenheit sollte man sich definitiv nicht entgehen lassen! Nicht nur für enthusiastische Spartenfans bietet Frears‘ bester Film seit Langem ein zeitloses, ehrwürdiges, gedankenanregendes Porträt über den Lebensabend der „Großmutter Europas“ sowie einen unglaublich zu Herzen gehenden Kulturaustausch zwischen zwei außergewöhnlichen Individuen, die anfangs trotz ihrer territorialen Zusammengehörigkeit erschreckend wenig voneinander wussten. Es bleibt daher inständig zu hoffen, dass diese ungemein substantielle, zeitdokumentarische Perle auf Augenhöhe zu „The King’s Speech“ die angemessene Berücksichtigung finden wird, da sie im selben Maße sowohl Tränen der Freude als auch der aufrichtigen Berührung zu evozieren imstande ist. Bravo!

UK / USA 2017 – 112 Minuten
Regie: Stephen Frears
Genre: Historiendrama / Tragikomödie / Biographie
Darsteller: Judi Dench, Ali Fazal, Olivia Williams, Michael Gambon, Eddie Izzard, Tim Pigott-Smith, Simon Callow, Adeel Akhtar, Fenella Woolgar, Julian Wadham
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