Rocketman

© Paramount Pictures

„Du musst den umbringen, als der du geboren wurdest, um der zu werden, der du sein willst.“ Mit diesem zugegebenermaßen recht radikalen, nicht zweifelsfrei belegten Gedankenanstoß startet der kometenhafte Aufstieg des als Reginald Kenneth Wright geborenen Briten, der nach Elvis Presley und Michael Jackson zum Solokünstler mit den meisten verkauften Tonträgern avancierte. In „Rocketman“ widmet sich Dexter Fletcher einer Zeitspanne von rund 35 Jahren im Leben von Elton John und erntete damit im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes stehende Ovationen. Es überrascht nicht, dass viele Kritiker prompt Parallelen zu Fletchers unmittelbarem Vorgängerwerk „Bohemian Rhapsody“ zogen, das ebenfalls die Vita einer extrovertierten Musiklegende des 20. Jahrhunderts bebilderte und obendrein vier Oscarstatuetten einheimste. Umso überraschender mutet es jedoch an, dass „Rocketman“ der grenzenlos erfolgreichen Filmbiographie über Freddie Mercury nicht nur ebenbürtig, sondern in vielen Belangen sogar deutlich überlegen ist und stärker auf Involvierung abzielt als lediglich auf eine zelebrierende Kenntnisnahme einer beeindruckenden Karriere.

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Das Handlungsgefüge hält sich eng an den Werdegang des Protagonisten, der sich schrittweise vom unscheinbaren Jungen zum schrillen Glam-Rock-Star entwickelte, verändert dessen Chronologie aber mitunter äußerst geschickt, sodass die Entstehung von Welthits wie „Your Song“, „Don’t Go Breaking My Heart“, „Victim Of Love“ und „I’m Still Standing“ immer im direkten Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensstadien und Gefühlen des Porträtierten steht. Neben dieser raffinierten Synthese von Dramaturgie und musikalischen Meilensteinen gelingt vor allem der Spagat zwischen Lebensbericht, Drama, Musical, und tragikomischer Charakterstudie in ausgewogenem Maße. Anders als in „Bohemian Rhapsody“ traute man sich nämlich, den Fokus auch auf Details mit hohem Polarisationsfaktor zu legen, weswegen sowohl gleichgeschlechtlicher Sex und betäubende Alkohol- und Drogenexzesse als auch Elton Johns lebensrettender Entzug einbezogen werden. Besonders emotional illustriert wurde zudem die von Entfremdung und Desinteresse geprägte, geradezu schmerzhaft mit anzusehende Eltern-Kind-Beziehung und der Moment des Outings, die nicht nur aus Sensationslust zum Dreh- und Angelpunkt des Gebotenen werden, sondern als Teil eines therapeutischen Verstehensprozesses zu deuten sind. An einigen Stellen des Zweistünders wäre weniger vermutlich mehr gewesen, denn einige Musical-Einlagen und Choreographien erinnern stark an die Handschrift von Baz Luhrmann, muten vielleicht genau deswegen gelegentlich einen Hauch überladen an und unterbrechen die Dialogführung nicht immer in idealer Weise. Hartgesottene Genrefans dürften sich daran jedoch nicht stören. Neben einer hervorragenden akustischen Gestaltung – sämtliche Songs wurden neu arrangiert und von den Darstellern eigens eingesungen – können sich die Kostümdesigner vermutlich schon jetzt als Oscarnominierte des Jahres 2020 betrachten, denn die exorbitanten, detailverliebten Aufzüge bleiben, ungeachtet modischer Präferenzen, dauerhaft im Kopf. Gleiches trifft insbesondere auf die gigantische Darbietung des erst 29-jährigen Taron Egerton zu, der mit dem verkörperten, eigenwilligen Entertainer förmlich zu einer hypnotischen Einheit verschmolz. Wohl nur die wenigsten hätten ihm eine derart einfühlsame, charismatische und facettenreiche Leistung zugetraut, doch es gelingt ihm, die herausfordernde Rolle mit dauerhafter Präsenz und einem individuellen Wiederkennungswert zu füllen. Letztlich ist Egerton sowohl in schauspielerischer als auch gesanglicher Hinsicht dermaßen vortrefflich, dass er es den übrigen Ensemblemitgliedern bisweilen schwer macht, etwas Adäquates entgegenzusetzen. Nichtsdestotrotz bieten Jamie Bell in der Rolle des Textschreibers Bernie Taupin und Gemma Jones als Großmutter sehenswerte Darbietungen.

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Seit drei Wochen darf „Rocketman“ hierzulande einer Sichtung unterzogen werden. In Summe ist das filmische Resultat vielleicht nicht auf allen Ebenen als Meisterwerk einzustufen, wohl aber als bestens unterhaltende, lehrreiche Spartenmixtur und vielschichtige Würdigung eines exzentrischen Musikers, die vor allem hinter die äußere Fassade schaut und dem Menschen hinter der selbsternannten „Stage Bitch“ viel Raum zur Entfaltung zugesteht. Was ferner bleibt, ist die Erkenntnis, dass das Filmfestival an der Côte d’Azur sich einmal mehr als wichtiger Indikator der noch jungen Award-Saison erweist.

UK / USA 2019 – 121 Minuten
Regie: Dexter Fletcher
Genre: Biographie / Musikfilm
Darsteller: Taron Egerton, Jamie Bell, Richard Madden, Bryce Dallas Howard, Gemma Jones, Steven Mackintosh, Stephen Graham, Charlie Rowe, Tate Donovan, Harriet Walter
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