Du hast das Leben vor dir (OT: La vita davanti a sé)

© Netflix

Im Gegensatz zu vielen anderen pandemiebedingt auf Streamingplattformen verschobenen Neuerscheinungen war für eine Adaption aus Bella Italia, die international als „The Life Ahead“ vermarktet wurde, erst überhaupt kein Kinostart vorgesehen worden. Netflix sicherte sich kurzerhand die Rechte und veröffentlichte vor zwei Tagen das Drama um die resolute, betagte Tagesmutter Rosa, die einst den Holocaust überlebte, später als Prostituierte ihr Geld verdiente und ein Heim für Kinder aus dem Milieu gründete sowie eines 12-jährigen, renitenten Senegalesen namens Momò, der bereits tief im Sumpf von Drogengeschäften steckt und, wie er sagt, „dem Glück nicht in den Arsch kriechen“ kann. Die in jeder Hinsicht ungewöhnliche, anfangs auf tiefer Abneigung beruhende Beziehung der beiden bildet das Herzstück und hätte leicht zum seichten Melodram geraten können, doch davon kann keine Rede sein. Ausgehend von der bereits 1975 erschienenen Romanvorlage werden die Leidensgeschichten der beiden ungleichen Protagonisten miteinander verwoben und erhalten insbesondere im Spiegel der Flüchtlingsproblematik der letzten Jahre eine besonders gegenwärtige Brisanz. Die reduziert eingesetzten Dialoge nehmen oft kein Blatt vor den Mund und entfalten Diskurse über den Bedeutungsverlust von Religion, Ausgrenzung und die Begrenztheit von Lebensperspektiven. Nicht nur verschiedene Szenen dürften zart besaiteten ein Tränchen ins Auge treiben, sondern auch wiederholt die feinfühlige akustische Untermalung des Libanesen Gabriel Yared und der Wechsel von Licht und Schatten. Als Schwachpunkt erweist sich hingegen der Einführung der transsexuellen Lola, die der eigentlichen Geschichte keinen Mehrwert beschert, dennoch harmoniert das aus erfahrenen Darstellern und Newcomern bestehende Ensemble trotz des Führungsanspruchs der Hauptdarstellerin als harmonische Einheit. Ein Jahrzehnt nach ihrem letzten Leinwandauftritt im Musical „Nine“ und ganze 58 Jahre in Folge ihres Oscargewinns wird es der Grande Dame Sophia Loren erlaubt, in eine facettenreiche Rolle zu schlüpfen, für die sie die Idealwahl gewesen sein dürfte. Ihre Aura thront (trotz chirurgisch fragwürdiger Eingriffe) über allem und man nimmt es ihr vollends ab, dass die Dämonen der Vergangenheit sie wiederkehrend einholen. Auch wenn sich die Beteiligten gelegentlich einen Hauch zu sehr auf Loren verlassen, ist der Gesamteindruck doch ein zufriedenstellender, zum richtigen Zeitpunkt erscheinender und zutiefst nachdenklich stimmender, selbst im Zuge einer Sichtung vom heimischen Sofa. Seit Freitag dem 13. dürfen sich Netflix-Nutzer ein eigenes Bild von dem Werk machen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als italienischer Beitrag für den „Besten internationalen Film“ ausgewählt werden dürfte.

IT 2020 – 94 Minuten
Regie: Edoardo Ponti
Genre: Drama
Darsteller: Sophia Loren, Ibrahima Gueye, Renato Carpentieri, Abril Zamora, Iosif Diego Pirvu, Simone Surico, Massimiliano Rossi, Babak Karimi, Francesco Cassano
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