Kurz vor der Oscarverleihung möchte ich mit Euch die einzelnen Kategorien näher beleuchten. Den Anfang möchte ich mit den Anwärtern um den „Besten Animationsfilm“ machen. Ob diese Kandidaten zu Recht die Konkurrenz um „Findet Dorie“, „Pets“, „Sing“, uva. hinter sich gelassen haben und welcher den Oscar gewinnen sollte, kann gerne im Anschluss diskutiert werden…
DIE ROTE SCHILDKRÖTE (OT: La Tortue Rouge / The Red Turtle)
Oscarpreisträger Michael Dudok de Wit (gewann den Preis für seinen Kurzanimationsfilm „Vater und Tochter“ aus dem Jahr 2000) erhielt in Cannes den Spezial-Preis der Jury und handelt von einem Schiffbrüchigen der auf einer einsamen Insel strandet. Als er die Insel auf einem selbst gebauten Floß verlassen will, scheint eine rote Riesenschildkröte etwas dagegen zu haben. Als diese eines Tages an Land kommt, lässt der Mann seinen ganzen Zorn an der Schildkröte aus und diese scheint dem Tode geweiht, doch dann entsteht zwischen ihnen eine ganz besondere Beziehung…
„Die rote Schildkröte“ besticht durch eindrucksvoll gezeichnete Bilder und einem oscarwürdigen Score von Nicholas Brittel, der dieses Jahr aber für seine andere Arbeit im prestigeträchtigeren Moonlight, nominiert wurde. Trotz spärlicher Handlung, die ohne jegliche Dialoge auskommt, schafft es das Werk eine Sogwirkung und Faszination auf meditativer Ebene zu erreichen, die ich so nicht erwartet hätte. Auch wenn mir vermutlich nicht alle metaphorischen Bezüge deutlich geworden sein dürften, hat er mich tief beeindruckt und bewegt. Vor allem der Schlussakt ist von einer so seltenen Schönheit, dass dieser nach lange nachwirkt.
Die poetisch anmutende Fabel dürfte gut und gerne den diesjährigen Oscar mit nach Hause nehmen, doch dies wäre zu dem Zeitpunkt ein sehr große Überraschung – wenn auch eine freudige. Mehr als eine Außenseiterchance ist leider nicht drin. Schade.
MEIN LEBEN ALS ZUCCHINI (OT: Ma vie de Courgette)
Der schweizerische Stop-Motion-Animationsfilm handelt von einem neunjährigen Jungen mit Spitznamen Zucchini, der nach einem tragischen Unglück seine (alkoholabhängige) Mutter verloren hat und in ein Heim kommt, wo er auf andere Kinder trifft, die ebenfalls aus schwierigen Verhältnissen stammen und zusammen ihren Platz in der Welt finden wollen. Doch bis die Kinder zu Freunden zusammenwachsen sind einige Hänseleien, Machtkämpfe und Abenteuer zu bestehen…
Ein Kinderfilm über Kindesmissbrauch, Verwahrlosung, Schuldgefühle, Rivalität und Mobbing dürfte eine Ausnahmeerscheinung darstellen. Aber nicht nur wegen diesem Alleinstehungsmerkmal hebt sich „Mein Leben als Zucchini“ von den gängigen Animationsfilmen ab. Es ist vor allem das angenehm leichte Gewand in dem Claude Barras diese Themen erzählt. Dabei gelingt es trotz der Knetgummioptik den Film nicht kindlich wirken zu lassen. Besonders bemerkenswert sind die unterschiedlichen Charaktere, die einem schnell ans Herz wachsen und die jeweils genug Raum bekommen um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Obwohl der Film nur eine gute Stunde dauert, durchlebt man ein großes Wechselbad an Gefühlen und bewundert die Kinder um ihre Leichtigkeit, wie sie mit der Last, die sie mit sich tragen, umgehen. Ein Film der sich direkt ins Herz spielt und mehr Aufmerksamkeit verdient hätte und der Zurecht um den begehrten Filmpreis buhlt.
Von den Nominierten ist „Mein Leben als Zucchini“ definitiv derjenige, der sich direkt ins Herz spielt und somit viele Stimmen auf sich vereinen könnte. Zu Wünschen wäre es ihm. Dass der Film Rückhalt haben dürfte beweist die Tatsache, dass die Academy ihn auch in der Longlist für den „Besten fremdsprachigen Film“ hatte. Viel Glück!
KUBO: DER TAPFERE SAMURAI (OT: Kubo and the two Strings)
Der diesjährige BAFTA-Gewinner und für 2 Oscars nominierte Stop-Motion-Animationsfilm aus dem Hause Laika besticht nicht nur durch eine ungewöhnliche Geschichte, einem hervorragendem Score und atemberaubenden visuellen Effekten, sondern vor allem durch viel Witz, Charme und viel Liebe zum Detail.
Wer die japanische (düstere) Kultur mag, die hier mit einer sagenhaften Bildgestaltung eingefangen wurde und von ungewöhnlichen Charakteren erzählt, dem sei Kubo wärmstens ans Herz gelegt. Kindern dürfte die Handlung allerdings zu komplex, die Stimmung zu düster und vor allem die Kämpfe mit dem Riesenskellett bzw. mit den gruseligen Zwillingsschwestern zu beängstigend sein. Während man bei den heutigen Animationsfilmen von Pixar und Disney von einer Slapstickeinlage zur Nächsten gehetzt wird, nimmt sich „Kubo“ Zeit und ist gerade in seinen ruhigen Momenten am Stärksten. Themen wie Vergänglichkeit und Tod werden in einer Weise behandelt, die Kinder ernst nimmt und Erwachsene zum Nachdenken und Mitfühlen anregt.
Unter Fachleuten gilt „Kubo“ seit dem BAFTA-Gewinn als ernstzunehmender Konkurrent von „Zoomania“ auf den Oscar als „Bester Animationsfilm“. Meiner Meinung nach überragt er diesen auf nahezu jeglicher Ebene und ich wünsche mir von Herzen nach 4 Oscaranläufen endlich den Goldjungen für das Studio Laika.
VAIANA – DAS PARADIES HAT EINEN HAKEN (OT: Moana)
In der musikalischen Disneyproduktion Vaiana geht es um die gleichnamige Titelheldin, die auf einer Insel im Südpazifik lange vor unserer Zeit lebt und das Wasser liebt, obwohl ihr Vater, der Stammeshäuptling ihr und seinem Volk das Verbot auferlegt hat die Insel zu verlassen. Als sie jedoch merkt, dass dieses Verbot das Leben der ganzen Insel gefährdet, macht sie sich auf die Reise zum Halbgott Maui.
Vaiana ist ein typisches Abenteuer aus dem Hause Disney mit vorhersehbarer Story, trotteligem Sidekick, den üblichen Wohlfühl-Botschaften und mittelmässigen Popsongs. Großes Plus ist die Optik, die aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass hier nicht der große Wurf gelungen ist.
Nur weil Disney draufsteht muss man nicht gleich mit der Oscarstatue winken. Geht für mich als schwächster Film des Oscar Line-ups ins Rennen und wäre ein absolut Schock, wenn er die überragende Konkurrenz dieses Jahr hinter sich lassen würde!
ZOOMANIA (OT: Zootopia)
Nach Erfolgen bei den „Golden Globes“ und den „Annie Awards“ gilt Zoomania als Oscarfavorit, doch „Kubo“ ist seit dem BAFTA-Gewinn und der 2. Oscarnominierung für die „Besten vis. Effekte“ uaf Lauerstellung. Wenn es nach mir gehen würde, würde „Zoomania“ um die Tierstadt „Zootopia“ lediglich den 4. Platz belegen. Die Animation an sich ist wie von Disney gewohnt auf allerhöchstem Niveau, die popkulturellen Referenzen vom „Paten“ bis zu „Breaking Bad“ dürften vor allem die breite Masse ansprechen, aber ob Kinder diese verstehen, geschweige denn die Gesellschaftskritik – bzw. den Diskurs über Toleranz und Rasse – darf angezweifelt werden. Zwar gibt es auch humoristische Einschübe in Gestalt der Faultiere oder witzige Verfolgungsjagden, doch die Mischung hat m.E. in Toy Story 3 besser gepasst. Es bleibt ein riesiger Kassenerfolg und ein guter Film, doch angsichts des herausragenden Animationfilmjahres erwarte ich von einem potentiellen Oscar-Gewinner mehr.
Die ganze Kritik könnt ihr übrigens HIER lesen!