Auch im ach so fortschrittlichen Jahr 2020 beschleicht einen wiederholt das Gefühl, dass Produktionen mit homosexuellem Sujet einen gewissen Nischenstatus innerhalb der Filmlandschaft einnehmen und die unmittelbare Auseinandersetzung damit allzu häufig als Tabuthema angesehen wird. Dies mutet insbesondere deswegen als überraschend und obendrein reaktionär an, weil neueste Studien davon ausgehen, dass rund ein Fünftel (!) der Weltbevölkerung zumindest eine mehr oder weniger ausgeprägte, bisexuelle Neigung besitzt. Gleichwohl sind im Hinblick auf die Qualität ebenjener Werke enorme Unterschiede festzustellen und die Fallhöhe wirkt entsprechend groß. Vielfach besetzen gleichgeschlechtlich liebende Personen in Hollywoodproduktionen noch immer die Funktion eines humoristischen Sidekicks, der häufig von Klischeereichtum und Eindimensionalität überlagert wird, dennoch existiert auch eine ganze Reihe an Exempeln, die dem vielschichtigen Kaleidoskop der LGBT-Community alle Ehre machen und für Akzeptanz und Toleranz werben.
Dies vorausgeschickt, möchte ich mich in den folgenden Wochen pro Ausgabe jeweils zwei Filmen in Spielfilmlänge widmen, in denen homoerotische Inhalte einen zentralen Stellenwert einnehmen und die insbesondere im Hinblick auf ihre Wirkungsästhetik und erzählerische Substanz stark auseinanderdriften.
Brokeback Mountain
Ganze fünfzehn Jahre sind bereits verstrichen, seit „Brokeback Mountain“ seinen Weg in die Kinos fand und insbesondere die amerikanische Gesellschaft in zwei Lager spaltete. Während konservative Kreise das Drama über zwei junge Cowboys namens Ennis und Jack im Wyoming der 1960er Jahre als „Bareback Mountain“ diffamierten und verbieten lassen wollten, gilt er heute sowohl unter namhaften Experten als auch Anhängern der LGBT-Community als leuchtendes Symbol und als Triumphzug des „schwulen Genres“. Der Film stellt nicht nur die mit Abstand sensibelste Arbeit von Ang Lee dar, sondern zählt auch zu jenem Typus nachwirkender und zeitloser Sozialstudien, die sowohl inhaltlich, formal als auch inszenatorisch in selbem Maß überzeugen können und vielen gleichgeschlechtlich Liebenden Mut gespendet haben dürften. Verantwortlich für die Brillanz sind nicht nur die herausragenden Darbietungen von Jake Gyllenhaal und Michelle Williams sowie der Karrierehöhepunkt des leider zu früh verstorbenen Heath Ledger, dem es gelingt, die innere Zerrissenheit und die allgegenwärtige Angst vor dem „Entdecktwerden“ meisterhaft zu transportieren. Ferner zeichnen sich die Dialoge durch ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl aus, was die Widerspiegelung der einzelnen Gefühlswelten der Beteiligten und den oft kräftezehrenden Weg zur Selbstakzeptanz mit all seinen Konsequenzen anbelangt. Zudem lässt die abwechselnde zwischen weitläufigen Naturbildern und eng auf die Mimik der Darsteller fokussierten Aufnahmen pendelnde Kameraführung sowie die berührende, musikalische Zusammenstellung dieses achtfach oscarnominierte Werk zu einem echten Erlebnis avancieren. Neben den Liebesszenen ist es speziell die brillante Schlusssequenz, die dem Publikum eindrucksvoll und unaufdringlich vor Augen führt, dass es innerhalb der Gesellschaft viel weniger darauf ankommen sollte, WEN man liebt, sondern, DASS man liebt…
God’s Own Country
„God’s Own Country“ wurde im Rahmen der 67. Berlinale erstmals einem breiten Zuschauerkreis zur Verfügung gestellt und ist seit geraumer Zeit auf Netflix abrufbar. In Bezug auf die erste Spielfilmtätigkeit des Briten Francis Lee ließ sowohl der Trailer als auch ein positiver Kritikertenor auf ein weiteres gelungenes Gay-Drama hoffen, dennoch erreicht das Gebotene nie wirklich die Dichte von „Brokeback Mountain“, auf dessen Pfaden er allzu augenscheinlich zu wandeln versucht. In die Gegenwart verlagert, erzählt das Independent-Drama die Geschichte des Schafzüchters Johnny, der sich zunehmend weniger den Avancen eines rumänischen Gastarbeiters namens Gheorghe erwehren kann. Ebendieses Konstrukt bietet unbestrittener Weise eine ganze Reihe von gewinnbringenden Ansätzen und wirft einen interessanten Blick auf den Drang vieler Homosexueller nach unverbindlicher und anonymer Lust – frei von jeglichen Gefühlen. Insbesondere die archaische Umgebung bietet einen interessanten Kontrast zur Brisanz der Liebschaft, dennoch ist die Handlung von Leerlauf und wiederkehrender Handlungsarmut geprägt. Die wortwörtlich hautnah inszenierten Sexszenen pendeln zwischen Realismus, Provokation und Voyeurismus, allerdings tritt insbesondere unmittelbar danach wiederholt ein dramaturgisches Vakuum ein. Vielsagender Weise entfaltet der zweite Handlungsstrang in Summe einen stärkeren Sog als die Beziehung der beiden Protagonisten an sich, denn er bebildert das noch immer an der Tagesordnung befindliche Hadern vieler Eltern mit der Sexualität des eigenen Kindes. Unbestritten liefern beide Hauptdarsteller jeweils ambitionierte Leistungen, doch eine synthetische, schauspielerische Chemie möchte sich nicht vollständig einstellen. In Summe bleibt es leider bei einem gut gemeinten Versuch, dem es allerdings nicht gelingt, alle Klischees zu umschiffen und sich als Werk aus eigenem Recht zu mausern. Es bleibt daher inständig zu hoffen, dass Francis Lee mit seinem in den Startlöchern stehenden, mit Kate Winslet in der Hauptrolle besetzten Nachfolgewerk „Ammonite“, das eine lesbische Romanze inmitten des rauen 19. Jahrhunderts bebildert, eine berührendere und nicht nur an der Oberfläche kratzende Arbeit offeriert.