Anatomie Eines Falls (OT: Anatomie D’Une Chute)
Der 23.01.2024 wurde unversehens zum Datum von historischer Tragweite, denn erstmals seit unfassbaren 86 (!) Jahren gelang es einer deutschen Staatsbürgerin, als „Beste Hauptdarstellerin“ für den Oscar nominiert zu werden und keine Geringeren als Margot Robbie und Natalie Portman auszustechen. Vor allem deswegen erhielt „Anatomie Eines Falls“ drei Monate nach dem offiziellen Kinostart eine Wiederveröffentlichung, die sich vor allem Liebhaber von juristischen Filmen nicht entgehen lassen sollte. Regisseurin Triet nimmt fortwährend und weit über die Grenzen der Verhandlung hinausgehend in Form des Satzes „Ohne Zeugen oder Beweise sind wir gezwungen zu interpretieren.“ das wohl größte Dilemma eines jeden Rechtssystems in den Fokus. Nicht nur den Ermittlern, sondern auch dem Betrachtenden fällt es in Folge des Todes eines Familienvaters in den französischen Alpen extrem schwer zu beurteilen, ob die angeklagte Ehefrau dafür Verantwortung trägt. Die realitätsnahen, investigativen Dialoge im stakkatoartigen Wechsel mutieren in diesem Zusammenhang zu Stärken des Werks, das wohldosiert von Rückblenden durchbrochen wird, welche einen zutiefst destruktiven Ehebund freilegen. Inszenatorisch erbrachte man darüber hinaus den Beleg, dass nicht immer ein immenses Budget vorhanden sein muss, um einen starken Eindruck zu hinterlassen, denn vor allem dem Schnitt kommen oft wirkungsästhetische Züge zu. Den unbestrittenen Dreh- und Angelpunkt bildet jedoch Hüller: Ihre außergewöhnliche Darbietung zeichnet sich durch Authentizität aus, aber vor allem in den Verhandlungssequenzen durch ein hohes Maß an Selbstbeherrschung, die der in die Enge getriebenen Figur vollends gerecht wird. Des Weiteren überzeugt auch Antoine Reinartz in der Rolle des Prototyps eines unnachgiebigen, empathielosen Staatsanwalts. In letzter Instanz ist „Anatomie Eines Falls“, obwohl ihm eine Kürzung um eine halbe Stunde gutgetan hätte, ein souveräner, komplexer Film, der Geduld abverlangt und dramaturgisch mit Konsequenz und Schnörkellosigkeit umgesetzt wurde.
Das Erwachen Der Jägerin (OT: The Marsh King’s Daughter)
Der Roman „Die Moortochter“ erschien 2017 auch im deutschen Handel und hielt sich mehrere Wochen in einschlägigen Bestseller-Listen. Sieben Jahre dauerte es, bis man eine Verfilmung realisierte und die Geschichte rund um eine Familie, die fernab der Zivilisation ein auf den ersten Blick friedvolles Dasein fristet, beleuchtete. Nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass den sich selbst als König betitelnden Vater, der seiner zehnjährigen Tochter das Jagen beibringt, ein dunkles Geheimnis umgibt und seine Familie in Gefangenschaft hält. Stilistisch erinnert das Ganze an einen Spagat aus „The Revenant“ und „Raum“, erreicht jedoch nur selten deren Dichte, denn es schwankt recht unentschieden zwischen Überlebensthriller und Psychostudie, ohne sich für eine von beiden Perspektivierungen zu entscheiden. Die trotz der Weiten der Wildnis Michigans seltsam klaustrophobisch anmutende Konstellation, welche durch eine gekonnte Kameraarbeit aufgewertet wird und sogar mythologische Motive einwebt, krankt jedoch auffallend an einem schwach konstruierten Drehbuch, das es sich im Hinblick auf die ambivalente Vater-Tochter-Beziehung viel zu einfach macht und nicht frei von Naivität und Logiklöchern ist. Demgegenüber ist vor allem der Zusammenprall von Moderne und Patriarchat wirkungsvoll gelungen. Erstmals seit Veröffentlichung des Finales der „Star-Wars“-Ennealogie nahm Daisy Ridley wieder eine Hauptrolle an und setzte sich im Castingprozess gegen Alicia Vikander durch. Zwar sieht man ihr in Summe genau so gern zu wie Ben Mendelsohn, dennoch entfalten beide lediglich szenenweise darstellerische Höchstleistungen. All dies addiert, ist „Das Erwachen Der Jägerin“ deswegen lediglich ein durchschnittliches Filmerlebnis, das zwar nicht wehtut, allerdings auch nicht ewig im Gedächtnis bleibt.
Der Junge Und Der Reiher (OT: 君たちはどう生きるか)
Der Katalog an Werken von Hayao Miyazaki, welche als Perlen des animierten Kinos gelten, ist hochkarätig und umfasst mit „Chihiros Reise Ins Zauberland“, „Das Wandelnde Schloss“ und „Wie Der Wind Sich Hebt“ drei Produktionen, die zu Recht zu Oscarehren kamen. In Gestalt von „Der Junge Und Der Reiher“ erschien zum Jahresbeginn nunmehr die neueste (und nach eigener Aussage letzte) Kreation des mittlerweile 83-jährigen Japaners, deren Fertigung in Form von Storyboards annähernd sieben (!) Jahre in Anspruch nahm. Inmitten der Hochphase des Pazifikkrieg verortet und bezüglich der Rahmenhandlung autobiografisch angehaucht, entfaltet sich nicht nur ein aufwendiger, von Herzblut zeugender Farb- und Bilderrausch voller liebevoll gezeichneter Kreaturen und Landschaften, sondern eine ganze Reihe an zutiefst nachdenklich stimmenden, märchenhaft-fernöstlichen Weisheiten mit zeitloser Relevanz. Auf narrativer Ebene hat man es speziell ab der zweiten Hälfte beinahe eine Spur zu ambitioniert gemeint, denn das Gebotene erweist sich als hochkomplex und deutlich über gewohnte Genrekonventionen hinausgehend, dennoch entschädigt dafür vor allem ein absolut herausragender, orchestraler und zum Träumen einladender Soundtrack, der zu den besten des Jahres gehört. Auch die Synchronarbeit ist überaus gelungen. Miyazakis Mammutprojekt stellt letztlich ein visuell mitreißendes, dichtes und hochsymbolisches Anime-Kunstwerk dar, das sich dezidiert an ein gereiftes, den „Minions“ entwachsenes Publikum richtet, Einlassungswillen abverlangt und nicht zuletzt als Parabel für die außergewöhnliche Bindung zu ebenjener Person fungiert, die einem einst das Leben gab.
Der Schatten Von Caravaggio (OT: L’Ombra Di Caravaggio)
„Details machen die Perfektion aus.“ Was der Klassizist mit enthusiastischem Kopfnicken bekräftigen würde, wäre für den Expressionisten wohl ein unverhandelbares Graus, dennoch avanciert die These zur Grundlage eines italienisch-französischen Historiendramas, das leider nur vereinzelt Einzug in die hiesigen Kinos hielt und sich auf akkurat-investigative Spurensuche hinsichtlich Michelangelo Merisi da Caravaggio und seinem Schaffen begibt. Regisseur Michele Placido zeichnet den als Häretiker gebrandmarkten Maler vielfach als „Luther der Malerei“ und kreiert einen starken Genrebeitrag, der nicht nur eine von Zeitsprüngen durchzogene Chronologie illustriert, sondern konkrete Diskurse entfaltet. Inhaltliche Spannung erhält das Gebotene ganz besonders durch den Zwist mit dem zwischen 1605 und 1621 amtierenden Papst Paul V., in welchem der Gegensatz von Dogma und Realismus als Duell zwischen Heiliger und Profaner Kunst gipfelt, obwohl die beiden sich nie persönlich begegneten. Optisch punktet „Der Schatten Von Caravaggio“ mit erlesenen Kostümen, skulpturalen Sets, dem steten Spiel von Licht & Schatten und originalen Szenerien, die ganz dem Muster seiner Bilder folgen. Ferner ist es gelungen, der überaus erotischen Färbung auch historische Präzision und psychologisches Interesse an den Motiven der Akteure entgegenzusetzen. Neben den beiden Gegenspielern, überzeugend gemimt von Scamarcio und Garrel ist es ein weiteres Mal Isabelle Huppert, der erlaubt wird, in wenigen Szenen viel von ihrer schauspielerischen Klasse zu übertragen. In Summe ist das Epos zweifelsohne eins der Besseren der letzten Jahre und dürfte – ein gewisses Maß an Geduld und Geschichtsaffinität vorausgesetzt – auch Kunstlaien zwei lehrreiche, gedankenanregende Stunden bereiten.
Die Schneegesellschaft (OT: La Sociedad De La Nieve)
Dank „La Sociedad De La Nieve“ erzielte España bereits zum 21. Mal eine Nominierung in der Kategorie „Bester Internationaler Film“ – öfter gelang dies bis dato nur Italien, Frankreich und Japan. Die mit Chile und Uruguay koproduzierte, auf Netflix veröffentlichte Produktion bebildert den Absturz von Flug 571 im Oktober 1972, der als „Wunder der Anden“ in die Geschichte einging, denn nach 72 Tagen in Eiseskälte konnten 16 der 45 Insassen eines Rugby-Mannschaftskaders trotz widrigster Umstände lebend gerettet werden. Bayona verliert keine Zeit und positioniert die atemlos inszenierte, visuell auf den Punkt getroffene Unglücksszene bereits nach einer Viertelstunde, in der man im wahrsten Sinne erlebt, wie sich Knochenbrüche anhören. Im Nachgang erweist es sich als interessante Entscheidung, die folgende, tatsachenbasierte Szenerie inmitten von klirrender Kälte und ständiger Lawinengefahr aus dem Off von einem der Todesopfer kommentieren zu lassen und mit sehr reduzierten, sanften Klängen zu untermalen. Dass der Film auch für die Maskenarbeit eine Oscarnominierung erhielt, ist hochverdient, denn die Wunden und zunehmenden Erfrierungen der Verunglückten wirken erschreckend real. Mit höchstem Fingerspitzengefühl näherte man sich der Kannibalismus-Thematik und verzichtete darauf, den Akt als solchen unmittelbar zu präsentieren, dafür jedoch die psychischen Auswirkungen. Stattdessen sind es von den Kameraden vorgebrachte Sätze wie „Ich gebe euch die Erlaubnis, mich zu essen, wenn ich es nicht schaffen sollte.“, die vollends ausreichen, um einem reihenweisen Schauer über den Rücken zu jagen und die moralische Zwangslage widerzuspiegeln. Wenngleich das Porträt nicht komplett ohne Pathos auskommt, sich mitunter auf zu viele Beteiligte konzentriert und insgesamt visuell überzeugender daherkommt als im Hinblick auf die Schauspielerriege, ist das Resultat dennoch ein überaus sehenswertes und nicht zuletzt ein eindringlicher Appell für unbändigen Lebenswillen und Gemeinschaftsgefühl im Angesicht des nahezu sicheren Todes.
Home Sweet Home – Wo Das Böse Wohnt
Seit der Veröffentlichung von „Victoria“ und „1917“ genießen Filme, die in Echtzeit inszeniert werden und ohne (erkennbaren) Schnitt auskommen, eine gewisse Renaissance. Diesen One-Shot-Stil macht sich auch Thomas Sieben in Gestalt seiner fünften Regieführung zunutze und beleuchtet den Einzug der hochschwangeren Maria in das abgelegene Familienanwesen ihres Verlobten, der sich nach zunächst belanglosem Start rasch zu einem Alptraum mit sonderbaren Erscheinungen wandeln soll, aus dem es kein Entrinnen gibt. Mit wackelnder Handkamera gedreht, steigert sich die Spannung dank einer ansonsten reduziert gehaltenen Gestaltung und konsequenter Dialogarmut in der ersten Dreiviertelstunde trotz gewisser Logiklöcher in unerwartet fesselnde Dimensionen. Als sich jedoch Auflösung des Szenarios, dessen Wurzeln in einem Trauma innerhalb der kaiserlichen Kolonialzeit liegen, enthüllt wird, verfliegt die bis dato aufgebaute Intensität leider zu einem nicht unbeträchtlichen Teil. Zwar versucht insbesondere Hauptdarstellerin Nilam Farooq in der Rolle der verängstigten, kurz vor der Niederkunft Stehenden diesem Manko nach Kräften entgegenzuwirken, doch in Summe will ihr dies im Alleingang nicht gelingen, zumal David Kross leider eine ungewöhnliche schwache Darbietung liefert. Wenngleich die Mixtur in Summe nicht über ein leicht überdurchschnittliches Horror-Erlebnis mit spannenden Einzelsequenzen hinauskommt und sich etliche Zuschauende höchstwahrscheinlich an dem historischen Unterbau stören dürften, ist der Versuch, die sonst so karge und an Wagemut allzu oft arme, deutsche Kinolandschaft aufzuwerten, jedoch immerhin allerehrenwert und weitestgehend atmosphärisch.
Night Swim
Ein Swimming Pool, eingebettet in eine Lage im Grünen abseits des Alltagslärms dürfte wohl für die meisten zunächst nicht unbedingt furchteinflößende Assoziationen wecken. Bryce McGuire, der in der Vergangenheit ausschließlich Kurzfilme drehte, wählt allerdings ausgerechnet dieses Freizeitidyll als Ausgangspunkt eines Gruselfilms, der über anderthalb Stunden selbst bei Hartgesottenen für etliche Reaktionen sorgen dürfte, aber mit Sicherheit nicht für eine beängstigende, fesselnde Stimmung. Selbst mit größtem Wohlwollen und trotz einer nicht gänzlich misslungenen Startszene entpuppt sich die Geschichte rund um ein über Jahrzehnte verfluchtes Badebecken, dem sowohl heilende als auch mordende Fähigkeiten innewohnen und das zur Bedrohung der Familie eines ehemaligen Baseballstars wird, als Rohrkrepierer aus dem Bilderbuch. Vorhersehbarkeit, eine schmerzhaft sinnentleerte Dialogisierung und Pseudomystik reichen sich in „Night Swim“ ebenso stoisch die Hände wie aufgezwungene Diversität, während die visuelle Gestaltung von Hektik nur so trieft und das sporadisch hervorblitzende Monster im chlorhaltigen Wasser wirkt, als hätten sich die Verantwortlichen unter Zeitdruck eine Gummimaske aus einem Faschingsverleih besorgen müssen. Ein Dutzend Mal dürfte dem Publikum unbeabsichtigter Weise zum hemmungslosen Lachen zumute sein und der Ruhepuls stagniert sogar während des Finalakts, denn die Charaktere sind so austauschbar gezeichnet worden, dass Gleichgültigkeit zum omnipräsenten Faktor wird. Wyatt Russell unterstreicht außerdem eindrucksvoll, warum sich Sportler lieber kein zweites Standbein im Schauspielbusiness aufbauen sollten, gleichzeitig bleibt es schleierhaft, was die erst im letzten Jahr für den Oscar nominierte Kerry Condon bewogen hat, in diesem Schund mitzuwirken. Dass der Streifen in den USA seit seiner Veröffentlichung nur eine Weiterempfehlungsrate von circa 15 Prozent generierte, überrascht daher in keinster Weise, sondern muss als angemessen verbucht werden.
Poor Things
„Brokeback Mountain“, „The Wrestler“, „Shape Of Water“, „Roma“ und „Joker“. All diesen Werken ist eines gemeinsam: Sie wurden in Venedig mit dem namhaften „Goldenen Löwen“ geadelt. In ebenjene illustre Liste gesellte sich im vergangenen September auch „Poor Things“, der nach langer Wartezeit nun endlich seinen deutschsprachigen Kinostart erlebte und nach nur wenigen Lidschlägen offenbart, warum er nicht von ungefähr als Sensation des Kinojahres 2023/2024 angesehen werden kann. Das Publikum wird zum Voyeur eines bildgewaltigen Werks voller Surrealismus, das so recht in keine Schablone passen will und anhand der experimentell in Folge eines suizidalen Sprungs von der Tower Bridge wiederbelebten Bella mit dem Intellekt eines Kleinkindes das Erproben ureigenster menschlicher Instinkte visualisiert. Literarische Basis dafür ist ein bereits vor 30 Jahren erstveröffentlichter, relativ unbekannter Roman des Schotten Alasdair Gray, in dessen Verlauf nicht nur das Erwachen Gelüsten mit gnadenloser Zielstrebigkeit zum Ausdruck kommt, sondern auch, getragen von herrlich scharfzüngigen Dialogen, das unvermeidbare Streben nach Autonomie. Die opulente, im viktorianischen Zeitalter angesiedelte Inszenierung zeichnet sich ferner dadurch aus, dass jedes stilistische Detail einen konkreten Zweck erfüllt und wie ein Zahnrad in das jeweils andere greift, während die Kameraperspektiven so einfallsreich gewählt worden sind, wie man es selten erleben darf, den theatralischen Charakter hervorhebt und dem Ensemble grenzenlosen Raum zur freien Interaktion gibt. Was insbesondere Emma Stone in ihrer skurril-grotesken & herausfordernden Rolle offeriert, ist nichts anderes als der unbestreitbare Zenit ihrer bisherigen Karriere, der insbesondere im direkten Zusammenspiel mit Mark Ruffalo und Willem Dafoe überragend wirkt. Ähnlich wie Lanthimos‘ Vorgänger „The Favourite“ ist auch „Poor Things“, dessen Betitelung nach etwas Bedenkzeit gleich in mehrfacher Hinsicht Sinn ergibt – ein durchdachtes und provokantes Gesamtkunstwerk, das aufgrund seiner Vielzahl an Grenzüberschreitungen definitiv nicht jedermanns Sache sein dürfte, aber den „Frankenstein“-Mythos sowohl neue Lesearten als auch Vitalität verleiht.
The Holdovers
Bereits im Spätsommer 2023 uraufgeführt, zogen namhafte Kritiker/innen zwischen dem jüngst für fünf Oscarstatuen vorgeschlagenen „The Holdovers“ vielfach Parallelen zu „Der Club Der Toten Dichter““, der nicht von ungefähr als eins der Meisterwerke der frühen 1990er gilt. Nicht nur deswegen war die Neugier auf eine Inaugenscheinnahme geweckt, sondern auch, weil die Tragikomödie in einem Jungeninternat zur Zeit des Vietnamkriegs spielt und der mittlerweile in Griechenland eingebürgerte Alexander Payne als Regisseur fungierte. Im Fokus steht ein über die Weihnachtsfeiertage auf dem Schulcampus übriggebliebenes, ungewöhnliches Trio, das nicht unterschiedlicher sein könnte und sich dank zuvor erlittener Schicksalsschläge stückweise vom Zwangskollektiv zur Gemeinschaft entwickelt. Der große Vorzug besteht primär in der Ausgewogenheit von Melancholie und Humor, phasenweise sogar recht gepfeffertem. Bild, Ton und Designs wirken, als handele es sich um einen Film aus der New-Hollywood-Ära, doch ebendieser Nostalgiefaktor geschah zum Zwecke der Authentizität. Leider verfügt der Mittelteil über Reserven und redundante Momente, weswegen es vor allem starke Einzelszenen sind, die im Gedächtnis bleiben. Paul Giamatti füllt die Rolle des kauzigen, anfangs schülerfeindlichen Lehrers mit antikem Faible großartig, doch letztlich ist es die zuvor recht unbekannte Da’Vine Joy Randolph, die es vermag, mit nur drei Szenen die Sympathien des Publikums an sich zu reißen. Zwar kann der beim Dreh erst 20-jährige Dominic Sessa ebendem darstellerisch nicht standhalten, dennoch nötigt es einem Respekt ab, dass es sich um sein Debüt vor der Kamera handelte. Trotz seines bittersüßen Unterhaltungswertes fehlt es „The Holdovers“ in Teilen am gewissen Etwas, sodass ein überaus warmherziger und pädagogisch wertvoller mit einer universellen Botschaft entstanden ist, der jedoch einfach zu sehr der Masse gefallen will und im direkten Vergleich hinter der Qualität von Paynes vorangegangenen Werken „About Schmidt“ und „Nebraska“ zurückbleibt.
Wo Die Lüge Hinfällt (OT: Anyone But You)
Seit dem Start seiner Regietätigkeit bescherte Will Gluck den gerade in den Wintermonaten nach Romanzen oft dürstenden Kinogängern bereits zwei respektable Genrebeiträge, denn „Einfach Zu Haben“ und „Freunde Mit Gewissen Vorzügen“ erwiesen sich als amüsant, kurzweilig und gleichermaßen augenzwinkernd – so wie man es im besten Fall von einer soliden „RomCom“ erwarten darf. Aus diesem Grund fällt es äußerst schwer zu glauben, dass die Genannten und der jüngst veröffentlichte Streifen namens „Wo Die Lüge Hinfällt“ tatsächlich aus derselben Hand stammen. Letzterer sorgt vermehrt für Kopfschütteln angesichts einer schwachsinnigen Basalhandlung rund um ein Pärchen, das aufgrund einer Familienfeier vorgibt, eine Beziehung zueinander zu führen, begibt sich auf das Niveau von Teenagern, die allabendlich Herzchen in ihr Tagebuch kritzeln. Vielfach ist das Gebotene humorfreie Zone, in der jeder halbwegs hoffnungserweckende Wortwechsel in der Ödnis von Einfallslosigkeit, hundertfach Erlebtem und Debilität verendet. Erschwerend kommt hinzu, dass man den Ausgang der Story bereits ab der 10. Minute der Laufzeit Meilen gegen den Wind riechen kann. Zwischen den beiden, im Fitnessstudio hochgetrimmten Hauptdarstellern besteht – und das ist der eigentliche, sparteninterne Todesstoß – nicht die allergeringste darstellerische Harmonie und auch Dermot Mulroney, der sonst ein Garant für Qualität gewesen ist, sieht man mehr als einmal an, dass er sich bei den Dreharbeiten wohl langweilte und / oder schämte. Letztlich erweisen sich die Aufnahmen der erlebnisreichen Metropole des Subkontinents nicht im Ansatz als ausreichend, um einen fast zwei Stunden bei Laune zu halten und der Film als solcher bleibt nur – wenn überhaupt – aufgrund von unfreiwilliger Komik in Erinnerung.