Für Mahito bricht eine Welt zusammen, als seine Mutter Hisako 1943 bei einem Brand im Krankenhaus stirbt. Ein Jahr später soll er das alles hinter sich lassen. Sei Vater hat inzwischen Natsuko geheiratet, die jüngere Schwester der Verstorbenen, und schickt die beiden aufs Land, wo sie fernab vom Krieg leben sollen. Mahito tut sich schwer mit der neuen Umgebung, kommt nicht mit den anderen Kindern klar. Und dann ist da noch der aufdringliche Reiher, der immer wieder auftaucht und ihn nervt. Als Natsuko spurlos verschwindet, ist es der Vogel, der ihm sagt, wo er sie, aber auch Hisako finden können soll. Der Junge ist misstrauisch, lässt sich aber darauf ein, in der Hoffnung, so seinem Trauma entkommen zu können, das ihn nicht loslässt…
Ursprünglich hieß es, der Regisseur wollte nach Wie der Wind sich hebt (2013) in Rente gehen. Aber er raffte sich noch einmal auf, drehte einen weiteren Film. Zwischenzeitlich durfte man zwar skeptisch sein, ob er diesen wirklich beenden würde. So gab es jahrelang kaum Updates. Tatsächlich wählte man bei Studio Ghibli einen ungewöhnlichen Weg: Es gab im Vorfeld weder Bilder noch Trailer, niemand wusste wirklich, worum es gehen würde. Es gab auch keine Premiere in Cannes oder bei den anderen üblichen Verdächtigen. Stattdessen lief er ganz regulär im Kino an. Nun ist der Film da, ist ein typischer Miyazaki und doch irgendwie ganz anders.
Die Gemeinsamkeiten sind dabei offensichtlich. Das fängt bei den Designs der Figuren an, die ganz unverkennbar sind und den Zeichenstil des Altmeisters beibehalten. Auch inhaltlich knüpft er an frühere Werke an. Wenn Mahito beispielsweise eine parallele Fantasy-Welt betritt, provoziert der Film Vergleiche zu Chihiros Reise ins Zauberland, dem erfolgreichsten Film des Regisseurs. Das Unheil des Kriegs ist ein weiteres beliebtes Motiv, das sich in früheren Werken findet, die pazifistische Sehnsucht Miyazakis ist bekannt. Coming of Age spielte sowieso immer wieder eine größere Rolle. Der Neuanfang in der ländlichen Gegend fand sich in Mein Nachbar Totoro. Da sind so viele Parallelen in Der Junge und der Reiher, dass man schon das Gefühl hat, es handele sich um einen Zusammenschnitt früherer Filme. Eine Art Best of Miyazaki, vergleichbar zu den Tribut-Veranstaltungen, wie man sie im Fernsehen immer mal wieder findet.
Und doch ist der Film kein bloßer Aufguss vergangener Heldentaten. Der Japaner blickt zurück auf seine Vergangenheit, baut sogar autobiografische Elemente ein – darunter der Umzug aufs Land während des Zweiten Weltkriegs. Er läuft ihr aber nicht nach. Tatsächlich ist Der Junge und der Reiher sogar maßgeblich ein Film über das Loslassen. So wird Mahito zwar die Reise in das Wunderland antreten, um den Status Quo wiederherzustellen. Gleichzeitig wird er lernen, nicht alles direkt zu übernehmen, sondern seinen eigenen Weg zu suchen. Der Anime bedeutet Abschied, bedeutet zugleich Neuanfang. Die Chance, etwas Anderes und Besseres zu erschaffen als die krummen Gebilde dieser Welt, die wir von unseren Eltern und Vorfahren übernommen haben. Das ist von Melancholie begleitet, aber auch einer gewissen Aufbruchsstimmung. Miyazaki verabschiedet sich mit einem Film, der einem viel mitgibt und zugleich ermuntert, selbst zu suchen und zu staunen.
Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Die Freiheit, die er dem Publikum gibt, droht immer wieder zu überfordern. Nicht nur, dass es ewig dauert, bis die eigentliche Reise in die Parallelwelt beginnt. Sie ist zudem nicht zielgerichtet. Die zwei Stunden sind vollgestopft mit Symbolen und Elementen, ohne Zusammenhänge zu schaffen, ohne große Erklärungen zu geben. Nicht wenige werden im Anschluss völlig verwirrt sein, was genau das eben eigentlich sein sollte. Natürlich waren die Geschichte Miyazakis größtenteils immer fantasievoll. Aber sie waren auch immer sehr nah am Menschen dran, dienten einem klar zu erkennenden Zweck. Das fehlt hier. Die Zuschauer und Zuschauerinnen dürfen aus dem reichhaltigen Angebot von Der Junge und der Reiher nicht nur etwas Eigenes machen. Sie müssen es sogar, da sich der Film einer einfachen Auflösung verweigert und vielmehr zu sagen scheint: „Hier ist meine Geschichte. Nun sucht eure eigene“.
Damit verbunden ist eine Vorliebe fürs Surreale. Auch die ist natürlich nicht neu, entsprechende Momente gab es in der Filmografie immer wieder. Dieses Mal fühlt sich Miyazaki aber offensichtlich nicht verpflichtet, sich einzuschränken, sondern lässt seiner Kreativität freien Raum. Im Stil von Alice im Wunderland geschieht dann auch in Der Junge und der Reiher ständig etwas Neues ohne Vorankündigung, gibt es kaum Übergänge zwischen einzelnen Stationen. Gemeinsam ist den Szenen dabei zum einen jedoch die visuelle Exzellenz: Studio Ghibli beweisen, dass klassische Zeichentrickfilme in Zeiten von CGI-Spektakeln kein Relikt sind, sondern eine eigene Kunstform, die einen noch immer zum Staunen bringen kann.
Der andere fortlaufende Aspekt ist die Suche nach einem Weg durch eine unheimliche, zum Teil schmerzhafte Welt, die einen mit unsinnigen Regeln traktiert. Das ist nicht so gefällig, wie es frühere Werke des Japaners waren, weniger in sich stimmig und zeitlos. Aber das Publikum wird hier mit vielen Gefühlen zurück in die Realität geschickt, zwischen Verwunderung, kindlicher Freude und Trauer. Und einer Dankbarkeit dafür, bei dieser vermutlich letzten Reise dabei sein zu dürfen, selbst wenn sie nicht so war, wie man sie vorher erhofft hatte.
Fazit: „Der Junge und der Reiher“ ist eine Art Best of Hayao Miyazaki und doch irgendwie ganz anders. Zwischen fantasievollem Abenteuer, Trauerdrama und kindlicher Neugierde wird der vermutlich letzte Animationsfilm des Altmeisters zu einem Abschied, der dem Publikum erstaunlich viel abverlangt. Das surreale, von zahlreichen Symbolen begleitete Werk gibt einem viele Geschichten auf einmal mit auf dem Weg, die wir dann zu unserer eigenen machen dürfen und sollen.