ANORA gewinnt die Palme d´Or von Cannes

Regisseur Sean Baker am 25. Mai 2024
Sarah Meyssonnier, Reuters

Der Hauptpreis, die Goldene Palme, ging an den US-amerikanischen Regisseur Sean Baker für seine auf ihre Art drastische Komödie Anora. Baker erzählt darin von einer Sexarbeiterin, die an einen jungen Oligarchenspross als Kunden gerät, sich in ihn verliebt und während einer Reise in Las Vegas spontan heiratet.

Das Ungemach, das für das junge Paar folgt, sobald die Eltern vom neuen Familienstand ihres Sohns erfahren, nutzt Baker für Situationskomik mit sicherem Sinn für Timing. Denn nach dem Willen der Eltern soll es diese Ehe nicht geben, und da sie selbst in Russland leben, schicken sie Handlager, damit diese sich der Sache annehmen.

Eine Person tanzt im blauen Licht.
Neon/ap

Nebenbei deutet der Film Themen wie #MeToo auf der Bildebene an, ohne dass er sich inhaltlich mit sexualisierter Gewalt befassen würde. Anora, gespielt von der energischen Mikey Madison (Scream), muss zumindest erfahren, wie es ist, wenn man sich einer Überzahl von Männern gegenübersieht, die ihre Freiheit bedrohen. Doch selbst in dieser Lage weiß sie sich verbal wie körperlich nach Kräften zu verteidigen. Man kann die Trophäe für Bakers struppiges Ungestüm allemal rechtfertigen.

Ein nicht weniger würdiger Kandidat wäre All We Imagine as Light gewesen, der zweite Spielfilm der indischen Regisseurin Payal Kapadia. Diese erhielt für ihre in ruhigen Bilder inszenierte Geschichte, in der sie die Schicksale dreier Frauen in Mumbai verbindet, den Großen Preis der Jury.

Kapadias Arbeit verbindet elegant dokumentarische Bilder mit gespielten Szenen. Und die Mittel, mit denen sie einzelne Fäden der Handlung zusammenführt, haben mitunter etwas unbekümmert Verspieltes.

Hoch gehandelt, aber letzten Endes das Nachsehen hatten die Langzeitbeobachtung der Transformation Chinas, die Jia Zhangke in Caught by the Tides bietet, als auch Andrea Arnolds eigensinnige Verschaltung von Sozialbautristesse und magischem Realismus in Bird.

Den Spezialpreis gab die Jury dem iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof für dessen The Seed of the Sacred Fig. Rasoulof war zuvor von iranischen Behörden unter Druck gesetzt worden, seinen Beitrag aus dem Wettbewerb zurückzuziehen, und nach seiner Verurteilung zu einer achtjährigen Haftstrafe aus dem Land geflohen. Am Freitag erschien er in Cannes auf dem roten Teppich, erhielt bei der Premiere vorab minutenlange Standing Ovations und nach dem Film noch einmal rund eine Viertelstunde davon. Er schien, wie der Rest seines anwesenden Teams, mit den Tränen zu kämpfen.

Mit The Seed of the Sacred Fig greift Rasoulof das iranische Regime in aller Direktheit an. Dieses wird repräsentiert von einem Familienvater, der am Revolutionsgericht frisch zum Ermittlungsrichter befördert wurde, genau in dem Moment, als im Land die Proteste gegen den Tod Jina Mahsa Aminis in Polizeigewahrsam losbrechen. Seine Töchter hingegen beurteilen die Berichterstattung in den Medien dazu höchst distanziert, sie erleben fassungslos, wie eine Freundin am Rand einer Demonstration gefährlich verletzt wird.

Die Positionen sind in dieser Konstellation klar verteilt, was dem Drama, das Rasoulof daraus entstehen lässt, nichts von seiner Wucht nimmt. Für Ambivalenz sorgen insbesondere die Eltern, die sich selbst unter Beobachtung des Regimes sehen.

Rasoulof führt diese politisch toxische Mischung in eine ausweglose Situation, die als Anklage gegen das „System“ im Iran an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Vor dieser entschlossenen Wut hat die Jury womöglich Angst bekommen, anders ist schwer zu erklären, warum Rasoulof mit dem Spezialpreis vertröstet wurde. Von so einem Festival kann man eigentlich mehr erwarten.

Vor dem Hintergrund verblasst etwas der Jurypreis für Jacques Audiards Transgender-Musical Emilia Pérez, das im mexikanischen Narcosmilieu spielt. Scheinbar konnte sich die Juy nicht auf einen Namen festlegen und vergaben den Preis für die „Beste Darstellerin“ an Karla Sofía Gascón, Zoe Saldana, Selena Gomez und Adriana Paz.

Ein paar Höhepunkte aus dem Programm gab es dann aber doch: Mit Black Dog hat der chinesische Regisseur Guan Hu, neben Jia Zhangke, eine weitere Transformationsgeschichte aus dem Land präsentiert. Mit sperrigen Protagonisten, einer rührend kitschfreien Mensch-Hund-Beziehung und wunderbaren Aufnahmen von schief in die Landschaft gewachsenen Bauten, die stadtplanerischen Projekten weichen müssen. Dafür gab es den Preis der Sektion „Un Certain Regard“.

Aus derselben Reihe gab es die Camera d’or für den besten Erstlingsfilm für Armand von Halfdan Ullmann Tøndel. Der Enkel von Liv Ullmann und Ingmar Bergman erzählt in seinem Spielfilmdebüt von einer Singlemutter, die an die Schule ihres Sohns zitiert wird, weil es einen „Vorfall“ gab mit einem anderen Schüler. Renate Reinsve, nur knapp einer Oscarnominierung für Der schlechteste Mensch der Welt entgangen, spielt diese Mutter mit einer Vielzahl an Nuancen, und sie schafft es in einer Szene, minutenlang so in einen Lachanfall auszubrechen, dass sie mit ihrer Darbietung den Höhepunkt des Films schafft.

Erfreulich zudem die Zeichentrickbeiträge dieses Jahrgangs, etwa der lettische Animationsfilm Flow von Gints Zilbalodis, in dem eine Katze auf große Entdeckungsfahrt geht und dabei in ständiger Bewegung bleibt. Eine Flut zwingt sie in ein verlassenes Segelboot, nach und nach schließen sich weitere Tiere wie ein Hund oder ein Biber an. Eine charmant unperfekte Animation trägt zum Gelingen dieses Abenteuers ganz ohne menschliche Figuren maßgeblich bei.

Noch schöner der japanische Film Ghost Cat Anzu von Yôko Kuno und Nobuhiro Yamashita aus der unabhängigen Reihe Quinzaine des cinéastes, in dem eine mannsgroße Katze am liebsten mit dem Moped durch die Gegend fährt und bei Gelegenheit Quatsch macht. Für ein auf sich gestelltes Mädchen bietet sich Anzu nichtsdestotrotz als Freund an. Ein vor anarchischen Einfällen nur so strotzendes Wunderwerk des unorthodoxen Kinderfilms.

Zuletzt sei eine kleine Komödie erwähnt, die sich ausschließlich einem einzigen Baseballspiel widmet. Eephus von Carson Lund ist ein Sportfilm, der wenig Interesse an Menschen zeigt, die sich zu Höchstleistungen zwingen, er beobachtet vielmehr eine Gemeinschaft von – fast – nur Männern, die in einem Vorort an der Ostküste der USA zum letzten Mal ihrer Leidenschaft für Baseball frönen. Das Feld, auf dem sie sich jahrzehntelang getroffen haben, muss einem Gebäude weichen.

Lund führt eine Reihe schräger Charaktere zusammen, die so hart wie weich sind, und nicht pausenlos, aber sehr ausgiebig über den Sport ihrer Herzen sprechen. Für Kundige wie Unkundige hat das großen Reiz. Inklusion der ungewöhnlicheren Art.

Cannes Best Actor Winner Jesse Plemons Unpacks 'Kinds of Kindness'
Fox Searchlight Pictures

Die Preisträger auf einem Blick:

  • Palme d’Or: Anora von Sean Baker
  • Grand Prix: All We Imagine as Light von Payal Kapadia
  • Beste Regie: Miguel Gomes, Grand Tour
  • Bester Darsteller: Jesse Plemons, Kinds of Kindness
  • Beste Darstellerin: Das Ensemble von Emilia Pérez
  • Jury Prize: Emilia Pérez
  • Special Award (Prix Spécial): Mohammad Rasoulof, The Seed of the Sacred Fig
  • Bestes Drehbuch: Coralie Fargeat, The Substance

OTHER PRIZES

  • Camera d’Or: Halfdan Ullman Tondel, Armand
  • Camera d’Or Special Mention: Chiang Wei Liang, You Qiao Yin, Mongrel
  • Kurzfilm Palme d’Or: Nebojša Slijepčević, The Man Who Could Not Remain Silent
  • Kurzfilm Special Mention: Daniel Soares, Bad for a Moment
  • Golden Eye Dokumentarpreis: Ernest Cole: Lost and Found und The Brink of Dreams
  • Queer Palm: Three Kilometers to the End of the World
  • Palme Dog: Kodi
  • FIPRESCI Award (Competition): Mohammad Rasoulof, The Seed of the Sacred Fig
  • FIPRESCI Award (Un Certain Regard): Boris Lojkine, The Story of Souleymane
  • FIPRESCI Award (Parallel Sections): Yoko Yamanaka, Desert of Namibia

UN CERTAIN REGARD

  • Un Certain Regard Award: Guan Hu, Black Dog
  • Jury Prize: Boris Lojkine, The Story of Souleymane
  • Bester Regiepreis: (ex aequo) “The Damned,” Roberto Minervini; “On Becoming a Guinea Fowl,” Rungano Nyoni
  • Performance Awards: “The Shameless,” Anasuya Sengupta; “The Story of Souleymane,” Abou Sangare
  • Youth Prize: “Holy Cow! (Vingt Dieux),” Louise Courvoisier
  • Special Mention: “Norah,” Tawfik Alzaidi

DIRECTORS’ FORTNIGHT

  • Europa Cinemas Label: Jonás Trueba, The Other Way Around
  • Society of Dramatic Authors and Composers Prize: Sophie Fillières, This Life of Mine
  • Audience Choice Award: Matthew Rankin, Universal Language

CRITICS’ WEEK

  • Grand Prize: Federico Luis, Simon of the Mountain
  • French Touch Prize: Constance Tsang, Blue Sun Palace
  • GAN Foundation Award for Distribution: Jour2Fête, Julie Keeps Quiet
  • Louis Roederer Foundation Rising Star Award: Ricardo Teodoro, Baby
  • Leitz Cine Discovery Prize (Kurzfilm): Montsouris Park, Guil Sela
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