Auf den ersten Blick scheint dieses Rachedrama nur aus gewaltverherrlichenden Hochglanzbildern und stereotypischen Charakteren zu bestehen, doch der dänische Regiesseur Nicolas Winding Refn, der spätestens mit „Drive“ zu Weltrum gelangte, liefert hier ein äußerst komplexes Werk ab.
Julian (Ryan Gosling) spielt einen Drogenhändler, dessen Bruder Billy eine minderjährige Prostituierte vergewaltigt und brutal ermordet. Der Vater der Ermordeten rächt sich ebenso brutal und schonungslos an deren Peiniger. Die Mutter (Kristin Scott Thomas) der beiden ungleichen Söhne fordert daraufhin von ihrem Zweitgeborenen Blutrache. Der sadistische Polizist Chang hat wie eine Art Pate alle Fäden der Unterwelt in der Hand und entscheidet mit seinem Samuraischwert über Recht und Unrecht.
Diese Art von schlichtem Plot kennt man zur Genüge und bietet auf dem Papier kaum Nährwert. In Cannes ausgebuht, von den Kritikern wegen seiner Inhaltsleere zerrissen, funktioniert der Film rein auf der Handlungsebene auch nicht nach rationalen Mustern. Die Figuren haben (bewusst) geringe Charakterisierungen erhalten, so dass die Psyche rätselhaft bleibt. Wir betrachten somit keine Personen, sondern Repräsentanten bzw. maskenhafte Wesen, die sich nach dem Brechtschen Ansatz nicht „natürlich“ verhalten. Die Bilder stehen wie die Figuren still, sie bewegen sich erst wenn eine Art höhere Macht sie wie Schachfiguren bedient. Ausdruck findet dieser Betrachtungsansatz auch in den gekünzelten Dialogen, in denen moralische Kategorien hinfällig werden. Ein Mutter-Sohn-Konflikt wird angedeutet, Rachegedanken und sexuelle Begierden werden eingestreut und durch uns als Betrachter versucht in westliche sozialisationsbedingte Muster zu pressen. Doch die Figuren treten und agieren unwirklich und treten unvermittelt auf, sind kaum durch eine Handlung motiviert. Die unheimliche Räume werden durch die Lichtgestaltung und durch die Kamerafahrten zu Seelenlandschaften, in denen die seelenlosen Körper bestialisch malträtiert werden.
Der Gottesbezug im Titel spielt auf diese unabänderliche Präsenz an, die einfach da ist. Chang fungiert als eine Art Gott, der Ohren abschneidet, weil die betreffende Figur nicht richtig zugehört ab. Dementsprechend braucht dieser seine Ohren auch nicht mehr. Ähnliches Argumente werden auch für Augen und Hände getroffen. Der Raum ist bei dieser fast religiösen Abschlachtung gefüllt mit (weiblichen) Figuren, die nur Hinhören, aber nicht hinsehen sollen. Dem Zuschauer sei dasselbe empfohlen und dennoch ertappt man sich dabei, dass man immer wieder hinschaut. Wie bei einem Unfall und den Schaulustigen, die sich um solche Orten scharen. In einer weiteren Szene verstummt der Ton und man schaut augenblicklich wieder dem Treiben auf der Leinwand zu. Dieser voyeuristische Ansatz, den Hitchcock in Vertigo und Das Fenster zum Hof perfektionierte, wird auch von Nicolas Winding Refn zitiert, indem Ryan Goslings Figur Julian in einer Szene an den Stuhl gefesselt wird und er einer jungen Frau beim Mastubieren zuschaut. Durch bestimmte Montagetechniken wird hier aufgehoben, welche Bilder in seinem Kopf ablaufen und welche sich tatsächlich unmittelbar vor seinen Augen abspielen. Später erfährt man, dass Julian eine Bindung zu ihr sucht, aber als seelenlose Figur dazu nicht in der Lage ist.
Wer sich im Repertoire eines David Lynch (Mullholland Drive sei an dieser Stelle besonders zu empfehlen, auch wenn dieser noch der verständlichste Film neben The Elephant Man von ihm ist) heimisch fühlt und sich von den stark ästhetisierten Bildern berauschen lassen möchte sei dieser Film empfohlen. Es ist durchaus verständlich, wenn die extreme Gewalt sauer aufstößt und man einen geradlinigen Handlungsstrang und motivierte Figuren braucht um einer Geschichte zu folgen. Dies wird hier ebenso wenig geboten, wie ein Sequel zu „Drive“ und das ist gut so. Erstaunlich ist vielmehr, wie sehr „Only God Forgives“ die Figur des Driver verkehrt. Unter philosophischen Gesichtspunkten betrachtet, bietet Windings neues Werk also um einiges mehr, als man auf den ersten Blick annimmt und ist eine Wohltat gegenüber dem Hollywood-Einheitsbrei und Fortsetzungswahn der großen Filmstudios. Eine objektive Kritik ist allerdings wie schon bei „Das ist das Ende“ (von Seth Rogen und James Franco) kaum möglich, da das Werk eine völlig subjektive Erfahrung ist. Auf Handlungsebene kommt man kaum über eine Mittelwertung hinaus, doch die Bildkompositionen, die Licht, Ton- und philosophische Ebene ist so durchdacht, dass ich mich für eine eher recht gute Wertung entschieden habe. Begründet sei dies auch in der für mich sehr brillianten, gegen ihr Image anspielenden Kristin Scott-Thomas, die ihre One-Liner durch ihre Leinwandpräsenz eine diabolische und zugleich faszinierende Offenbarung menschlicher Abgründe erschafft.