Von den Kritikern und vom Publikum gleichermaßen als Regiewunderkind gefeiert, liefert der gerade mal 25-jährige Kanadier Xavier Dolan mit MOMMY bereits seine 5. Regiearbeit ab und damit sein, meiner Meinung nach, Besten gleich dazu.
Wie bereits in seinem beachtlichen Debütfilm I KILLED MY MOTHER steht eine schwierige Mutter – Sohn – Beziehung im Vordergrund. Antoine-Olivier Pilon verkörpert Steve, der seiner Umwelt vor allem aggressiv und mit heftiger Fäkalsprache begegnet. Dementsprechend dürften die meisten Zuschauer geschockt sein, doch darauf ruht sich Dolan nicht aus, sondern er schafft es mit der Nachbarin Kyla, die ganz bazaubernd von Suzanne Clément dargestellt wird, ein spannendes Gegengewicht zu der selbstzerstörerischen Familienkonstellation zu integrieren und eine Sogwirkung zu erzeugen, die sonst nur Klassiker alter Schule hinbekommen…
Anne Dorval liefert als alleinerziehende Mutter, die Ursache und Leittragende zugleich ist, eine Tour-De-Force ab, die definitiv zu den Besten des Filmjahres 2014 gehört und wieder einen expliziten Beleg darstellt, warum es bei den Oscars einen Preis für die „Beste Darstellung in einem ausländischen Film“ geben sollte! Dort hätte es dann einen spannenden Dreikampf zwischen ihr, Agata Kulesza (IDA) und Marion Cotillard (TWO DAYS, ONE NIGHT) gegeben. Die Frage, die noch lange nachhallt ist, wie viel kann eine Mutter aushalten und ist die Liebe einer Mutter wirklich grenzenlos bzw. wie selbstzerstörerisch kann die Liebe zu ihrem eigen Fleisch und Blut sein? Vortrefflich eingefangen in der Szene mit dem „Handkuss“, der auch diese Rezension schmückt darf und immer wieder die schmerzlich-schöne Beziehung der Beiden widerspiegelt.
Aber nicht „nur“ darstellerisch ist MOMMY ganz großes Kino, sondern die messerscharfen Dialoge, das beeingende 1:1 Format, die Kameraführung und die musikalischen Untermalung, vor allem in den meisterlichen Montagen sorgen indes dafür, dass hier ein ganz großes Werk vorliegt, welches sicherlich schon bald als Klassiker in die Filmgeschichte eingehen wird. Zugegeben der Mix aus Songs von Celine Dion, Andrea Bocelli, Eiffel 65, Beck, Oasis, Ellie Goulding und Dido sind in der Mischung sicherlich nicht jedermanns Sache und mit einigen, wie „Colorblind“ von den Counting Crows oder „Young and Beautiful“ verbindet man jüngst Szenen aus anderen Filmen, doch sollte dies den Filmgenuss nicht beeinträchtigen. Die stärkste musikalische Montage erklingt zum klassischen Stück „Experience“ von Ludovico Einaudi, der perfekt die Zerrissenheit und Tragik dieses Dreiergespanns in die Magengrube rammt und jüngst an die Werke von Abel Korzeniowski erinnert, den ich seit A SINGLE MAN und W.E. über alle Maße schätze! Wenn zuletzt Lana Del Rey abermals den Rahmen des Films mit ihrem „Born to die“ schließt, wollen wir als Zuschauer genauso wenig loslassen wie Diane ihren Sohn Steve.
Fazit: Mit MOMMY liefert Xavier Dolan sein Meisterstück ab, welches mit bisher 36 internationalen Filmpreisen ausgezeichnet wurde und eine Sogwirkung entfaltet, der man trotz seiner üppigen Laufzeit von 138 Minuten nicht entkommen kann und noch lange nachwirkt. Ein echtes Kinojuwel, dass in die Riege großer Klassiker eingehen wird, weil es immer wieder sauer aufstößt, aber ungemein fasziniert!