A Haunting In Venice
Nach „Mord Im Orientexpress“, der 2017 deutschlandweit rund 1,5 Millionen Zuschauer/innen in die Kinosäle lockte, brachte es der pandemiebedingt mehrfach verschobene Nachfolger „Tod Auf Dem Nil“ nur noch auf rund ein Drittel. Nun erschien die dritte Verfilmung der berüchtigten Agatha-Christie-Romane unter der Leitung von Kenneth Branagh, der zugleich erneut in die Rolle des eigensinnigen, belgischen Meisterdetektivs Hercule Poirot schlüpft. Was den Bekanntheitsgrad anbelangt, kann Fall #3, ursprünglich unter dem Originaltitel „Schneewittchen-Party“ als Buch veröffentlicht, mit den Vorgenannten freilich nicht mithalten, dennoch ist die Thematik rund um Mordfall in Folge einer Séance eine fesselnde und weitaus düsterer inszeniert als die vorangegangenen Kriminalfälle und mündet dank psychologischer Tiefe in einer verblüffenden, raffinierten Auflösung, die es in gleich mehreren Belangen in sich hat. Es erwies sich als kompliziert, eine Drehgenehmigung in der nunmehr Eintritt verlangenden Lagunenstadt zu erhalten, doch als nicht minder lohnenswert, da die Beengtheit der Kanäle und Palazzi eine perfekt fotografierte Kulisse für das klaustrophobisch und stilvoll inszenierte Vexierspiel inmitten der frühen Nachkriegszeit bildet, die entscheidend vom Spiel mit Licht und Schatten ummantelt wurde. Auch die Klänge der bisher einzigen KomponistIN, die jemals den Oscar gewann, fügen sich in die schummerige, mystische Szenerie mit wohldosiertem Gruselfaktor perfekt ein. Aus dem Ensemble überzeugen neben Branagh vor allem Jamie Dornan und Jude Hill, mit denen er bereits für „Belfast“ kooperierte, sowie Michelle Yeoh und Kelly Reilly mit nuancenreichen, starken Darbietungen. „A Haunting In Venice“ führt nicht zuletzt vor Augen, dass das Oeuvre der Engländerin, die bereits vor einem halben Jahrhundert verstarb, noch immer lebendig ist, weswegen man gespannt sein darf, welcher der übrigen 30 Poirot-Romane als nächstes auf die Leinwand zurückkehren könnte.
Asteroid City
Wes Anderson, seines Zeichens examinierter Philosoph, zählt nicht gerade zum Kreis aktiver Regisseure, die sich auf Produktionen für die „breite Masse“ spezialisiert haben. Sowohl „Moonrise Kingdom“ als auch „Grand Budapest Hotel“ bezogen ihre Stärke insbesondere aus ihrer erfrischenden Andersartigkeit, doch mit „Asteroid City“, uraufgeführt in Cannes, schuf er jüngst etwas, das so speziell ist wie bisher keines seiner Werke und gelegentlich einfach zu viel will, ohne es vollends zu erreichen. Aufgebaut wie ein verschachteltes, postmodernes Theaterstück, bebildert der Film eine rätselhafte Ufo-Landung nahe einem abgelegenen Areal für Atomwaffentests in den 1950ern, die nicht nur eine Quarantäne auslöst. Für den Dreh wurde ein komplettes, wildwestliches Städtchen inmitten Zentralspaniens errichtet, welches die Sinnesreize auf vielen Ebenen erfreut, trotz seiner beabsichtigten Künstlichkeit kaum Wünsche offenlässt und sich bereits jetzt für eine Oscarnennung in Stellung bringt. Neben dem beeindruckenden Ensemble, das sich aus insgesamt neun (!) oscarnominierten Schauspielern mit ansprechenden Darbietungen zusammensetzt, hält auch die musikalische Untermalung und ein eigensinniger Humor und eine überaus skurrile Szene im Meteoritenkrater das Interesse aufrecht, dennoch kommt man nicht umhin, sich während der Inaugenscheinnahme zu fragen: Was will Anderson mit diesem Spagat aus Tradition und Dystopie eigentlich sagen? Ebendies wird schlicht und ergreifend nicht vollumfänglich klar, weshalb es letzten Endes bei einem soliden, ambitionierten Projekt bleibt, das jedoch nur szenenweise einen Funken überspringen lässt und den Durchschnittszuschauer überfordern dürfte, obwohl vor allem Scarlett Johansson mit einer fabelhaft nonchalanten Performance im Gedächtnis bleibt.
Fearless Flyers – Fliegen Für Anfänger (OT: Northern Comfort)
Gemäß diversen Studien leidet ein nicht unbeträchtlicher Teil der deutschen Bevölkerung, nämlich ungefähr 18 (!) Prozent, unter Angst vor dem Fliegen, obwohl es statistisch die sicherste Art zu reisen ist. Während die meisten Betroffenen sich für Flugverzicht entscheiden, geht es den Protagonisten im Film „Fearless Flyers“ anders, denn diese nehmen freiwillig an einem betreuten Kurs teil, um durch Konfrontationstherapie ihre Phobie zu überwinden. Zugegebenermaßen ist der inhaltliche Ansatz rund um einen Flug ins Ungewisse ein durchaus interessanter, doch leider versäumte es der Isländer Sigurðsson vollumfänglich, aus der Idee etwas Unterhaltsames herauszukitzeln oder Substanz zu schaffen. Dass viele Köche den Brei verderben, wird hier mit Nachdruck illustriert, denn unter Beteiligung eines Drehbuchautorenquartetts mutet das Gebotene stets wie eine kraftlose, öde Aneinanderreihung von Einzelszenen an, die nicht zusammenpassen will und vor Luftlöchern und skurrilen Turbulenzen nur so strotzt und sich schließlich in einer grenzdebilen Verschwörungstheorie entlädt. Die wenigen, größtenteils farblos bis dilettantisch verkörperten Charaktere wurden dermaßen unsympathisch und oberflächlich gezeichnet, dass jeder Mitfieberungseffekt ausbleibt und angesichts vieler verkrampfter Momente mit Dialogen auf Telenovela-Niveau überrascht es nicht, dass ausgerechnet das ZDF das budgetsparende Werk koproduzierte. Lediglich zwei zündende, jedoch eher aus Alternativlosigkeit heraus entstehende Gags finden sich verteilt auf anderthalb Stunden, was für eine selbsternannte Komödie letztlich der Todesstoß sein dürfte. Abgesehen von ein paar hübschen Ausblicken auf die verschneite Natur des nördlichsten Inselstaats der Welt und einer immerhin bemühten Leistung von Timothy Spall bietet „Fearless Flyers“ somit erschreckend wenig und legt in Summe eine Bruchlandung wie aus dem Bilderbuch hin, die Flugangstgeplagte wohl eher in ihrer ablehnenden Haltung bestärken dürfte.
Lucky Day
Während ein Film mit simpler Bezeichnung „Lucky Day“ in frankophonen Staaten bereits vor der Pandemie veröffentlicht wurde, erfolgte ein Kinostart in Deutschland erst mit vierjähriger Verzögerung. Ob dazu überhaupt die Notwendigkeit bestand, ist zumindest diskutabel, denn Roger Avarys vierte Tätigkeit auf dem Regiestuhl stellt eins der spartenmischenden Werke dar, das beim Betrachter mehrfach für WTF-Reaktionen sorgt und (wieder einmal) einen entlassenen Straftäter porträtiert, welcher aufgrund seines Umfeldes nicht vermag, aus dem Sumpf der Kriminalität auszubrechen. Avary, der selbst wegen fahrlässiger Körperverletzung ein Jahr in Haft verbrachte, erhielt für das Drehbuch zu „Pulp Fiction“ vor fast genau dreißig Jahren den Oscar, doch abgesehen von der dramaturgischen Kaltschnäuzigkeit ist von der seinerzeit gezeigten Raffinesse diesmal nur äußerst wenig zu merken. Sogar bei völliger Anspruchsarmut mutet das klischeebeladene Skript an, als sei den Beteiligten erst am Vorabend klar geworden, dass die Einreichungsfrist verstreicht und auch die handwerkliche Gestaltung bewegt sich auf 08/15-Niveau. Zwar tragen schwarzhumorige, groteske Momente dazu bei, trotz aller Mankos am Ball zu bleiben, dennoch sind diese in Summe an einer Hand abzählbar und lösen letztlich aus, dass man speziell die actionreiche Schlussphase nicht ernst nehmen kann. Hauptdarsteller Luke Bracey ist zwar durchaus nett anzusehen, dennoch mangelt es ihm des Öfteren an Präsenz, während sein Antagonist wie eine Karikatur agiert, sodass letztlich nur ein abwechslungsreicher Soundtrack für kurze Zeit in Erinnerung bleibt. Anders als diverse Kritiker würde ich zwar nicht so weit gehen, „Lucky Day“ als „schlechtesten, kanadischen Film ever“ zu klassifizieren, dennoch ist er in der Tat meilenweit davon entfernt, solide Unterhaltung zu bieten, schwankt ziellos zwischen den Genres hin und her und wird seinem verheißungsvollen Titel somit in keinem Belang wirklich gerecht.
Retribution
Bei „Retribution“ handelt es sich um ein Remake eines vor 8 Jahren in España unter dem Titel „El Desconocido“ (Der Fremde) veröffentlichten Thrillers, in dem ein Familienvater mitten in Berlin in die Fänge eines anonymen Anrufers gerät, der ihn mithilfe einer Autobombe ohne Rücksicht auf Verluste erpresst. Was auf dem Papier zunächst moderate Spannung versprach, erweist sich jedoch als allumfassender Fehlschlag. Das Gebotene erinnert bezüglich des Handlungsgefüges an eine blutleer kopierte, unter Zeitdruck konstruierte Mischung aus „Speed“ und „Nicht Auflegen“, ohne dabei einen klassischen Spannungsbogen zu formen oder aber eigene Ideen einzubauen, während die platten Dialoge sporadisch grenzdebile Züge innehaben. Nicht einmal der Titel, zu gut Deutsch „Vergeltung“ ergibt einen Sinn, ebenso wenig wie die etwaigen Beweggründe des Täters. Der mittlerweile 71-jährige Liam Neeson trat in Vorgängerfilmen des Actiongenres wie „Non-Stop“ und „96 Hours“ immerhin noch akzeptabel auf, erreicht hierin jedoch einen neuen Tiefpunkt seiner Karriere voller Lustlosigkeit und ohne jeden Funken an Authentizität und es wirkt beinahe obskur, dass derselbe Mann einst eine brillante Rolle wie die Oskar Schindlers überzeugend verkörpert hat. Gleiches trifft auf die Handvoll an übrigen Akteuren zu, denen es nicht gelingt, sich über die Grenzen ihre eindimensional gezeichneten Figuren zu erheben. Außer der glücklicherweise kompakten Länge und einer passablen Schnitt- und Tonarbeit liefert „Retribution“ selbst mit schmerzhaft zugekniffenen Augen nichts, das sich positiv ins Langzeitgedächtnis übertragen lässt.
Schulen Dieser Welt (OT: Être Prof)
Exakt zehn Jahre sind inzwischen vergangen, seit „Auf dem Weg Zur Schule“ einen starken, dokumentarischen Blick auf den mitunter entbehrungsreichen Bildungserhalt in verschiedenen Teilen der Welt warf und mit seiner Lehrhaftigkeit deutlich höhere Zuschauerzahlen in Kinos generierte, als es für gewöhnlich im nichtfiktionalen Genre üblich ist. Während der Vorgänger sich auf den Schulalltag in Kenia, Marokko, Argentinien und Indien fokussierte, werden diesmal drei Lehrerinnen mit Leib und Seele porträtiert, die jeweils in der sibirischen Tundra, Zentralafrika und am Delta von Bangladesch mit Leib und Seele um Chancengleichheit kämpfen. Dass eine Frau die Regieleitung übernahm, erweist sich als Vorteil, denn sie beweist Gespür für klare Strukturen, Authentizität und kulturelle Belange mit exemplarisch weiblicher Färbung, ohne dabei die engmaschige Grenze zum Feminismus einzureißen. Zwar sind die kontrastreichen, landschaftlichen Aufnahmen äußerst kraftvoll und sprechen oft im Alleingang für sich, dennoch ruht das Hauptaugenmerk trotz allem stets darauf, dass Bildung vermutlich das kostbarste Gut der Zivilisation ist, ganz gleich, auf welchem Erdteil man zu Hause ist. Unterstützt von reduzierten Klängen staunt man des Öfteren über Aspekte wie immense Klassengrößen, abgeschiedene Lebensweisen oder die bedauerlicherweise immer noch tiefe Verwurzelung von Kinderehen, die letztlich insbesondere die Botschaft vermitteln, dass Lehrkräfte wie Schüler in sämtlichen Industriestaaten im Vergleich dazu lediglich vor Luxusproblemen stehen. Eine Inaugenscheinnahme erweist sich nicht nur aus diesem Grund als äußerst gewinnbringend, obwohl der letzte Funke zur Brillanz bisweilen fehlte.
Speak No Evil (OT: Gæsterne)
Wie sehr kann / sollte man zufälligen Urlaubsbekanntschaften vertrauen? Das ist die basale Frage, welche dem dritten Film in Langfassung von Christian Tafdrup als treibende Kraft innewohnt. Was mit einem netten Kennenlernen zweier dreiköpfiger Familien in einem idyllischen Urlaub in der Toskana beginnt, entwickelt sich nach einer angenommenen Einladung zu einem gemeinsamen Wochenende im niederländischen Ferienhaus mit eigentümlicher Gemächlichkeit zu einem zutiefst unangenehmen Ereignis. Aktionsarm inszeniert und auf prägnante Dialoge beschränkt, wird ein Problem der modernen Gesellschaft in den Fokus genommen, denn allzu häufig werden zwischenmenschliche Grenzüberschreitungen aus Höflichkeit oder mangelnder Konfliktfähigkeit weggelächelt und widerstandslos hingenommen – visualisiert anhand der dänischen Besucher Louise und Björn, denen es nicht gelingt, ihr Unwohlsein zum Ausdruck zu bringen. Selbst in der Rolle des Betrachters kann man trotz eines durchgehend flauen Gefühls, subtiler Schreckmomente und wohldosierten Anspielungen nicht vorhersehen, welche Dimension die zweite Hälfte annehmen würde. Insbesondere der Finalakt erinnert an eine Parabel und avanciert zu einem durch opernhafte Klänge unterstützten, apokalyptisch Alptraum, der unverkennbar auf biblischen Spuren wandelt und allein die Vorstellung, dass sich etwas Vergleichbares recht mühelos in der Realität ereignen könnte, lässt einen in regelrechte Schockstarre verfallen und wirkt selbst für Hartgesottene wie ein spürbarer Schlag in die Magengrube. „Speak No Evil“ zählt zu den Kinobesuchen, die eine Verdauung erfordern und tritt nicht zuletzt den Beweis an, dass Arthaus und Grusel sich nicht zwangsläufig ausschließen. Entstanden ist ein anspruchsvoller, psychisch herausfordernder Genrefilm mit authentischen Schauspielleistungen und immenser Wirkung, welcher der Floskel, „seine Zunge zu hüten“ eine diabolische Bedeutung verleiht, sich jedoch eher an ein geduldiges Publikum richtet, das die Horrorsparte nicht unbedingt als favorisiertes Genre bezeichnen würde.