
Seit vielen Jahren schon ist John „Divine G“ Whitfield (Colman Domingo) wegen Mordes im Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing. Zwar beteuert er noch immer, diesen nicht begangen zu haben und unschuldig verurteilt worden zu sein. Doch die diversen Rechtsmittel und Gnadenversuche haben bislang zu nichts geführt. Um sich die Zeit hinter Gittern zu vertreiben, hat er deshalb eine Theatergruppe gegründet, die im Gefängnis Stücke aufführt. Das Projekt kommt gut an, sie haben an den unterschiedlichsten Geschichten gearbeitet. Doch die aktuelle ist selbst für ihn komplett neu: Die Häftlinge wollen ein Stück über eine Zeitreise auf die Beine stellen, das sie an die unterschiedlichsten Orte und in die unterschiedlichsten Zeitalter führt. Als wäre das nicht schon anstrengend genug für John, taucht auf einmal auch der Gangster Divine Eye (Clarence Maclin) auf und macht ihm seinen Rang streitig…
Gefängnisse sind Orte, an die aus gutem Grund niemand will. Eingesperrt zu sein, immer beobachtet, immer dieselben Rituale – das ist für viele die Hölle. Gleichzeitig ist das Setting sehr dankbar, um Geschichten zu erzählen, die das menschliche Zusammensein thematisieren oder einzelne Figuren näher beleuchten wollen. Beispiele dafür gibt es einige. So gilt für viele Die Verurteilten um zwei Männer, die in einem berüchtigten Gefängnis einsitzen und Freundschaft schließen, zu den besten Filmen aller Zeiten. Ein großer Hit war auch die Serie Orange Is the New Black, die auf mehrere Staffeln verteilt Einblicke in ein Frauengefängnis gibt. Ein großer kommerzieller Erfolg ist das Drama Sing Sing bislang nicht. Dafür ist dieser aber für eine Reihe bedeutender Filmpreise im Rennen gegangen und erhielt großartige Kritiken – und das völlig zurecht.

Die Geschichte um eine Theatergruppe in einem Gefängnis wird manchen vielleicht bekannt vorkommen, auch Ein Triumph und Alles nur Theater? arbeiteten mit einem solchen Szenario, dort führten die Häftling das absurde Stück Warten auf Godot auf. So wie diese basiert auch Sing Sing auf einer wahren Vorlage. Genauer gibt es das Programm Rehabilitation Through the Arts tatsächlich in dem berühmten Hochsicherheitsgefängnis in New York und soll den Insassen dort wie in anderen Einrichtungen helfen, mittels künstlerischer Workshops zu sich und in die Gesellschaft zu finden. Die eigentliche Hauptfigur ist fiktional. Dafür gibt es andere Elemente, die für Authentizität sorgen. So wurde der Film in einer Reihe ehemaliger Gefängnisse gedreht. Vor allem werden aber die meisten Charaktere von tatsächlichen Sträflingen verkörpert.
Bemerkenswert ist der Film aber auch, weil er nicht die üblichen Klischees bedient, die man mit Gefängnissen in Verbindung bringt. Klar, man findet hier die tätowierten Kerle und Leute, die sich etwas aufplustern. Man verzichtet aber auf die üblichen Gewaltszenen oder die obligatorischen Streitereien auf dem Gefängnishof oder im Speisesaal. Stattdessen schaut Regisseur und Co-Autor Greg Kwedar hinter die Kulissen. Ihn interessieren die Figuren, die Menschen hinter den Insassen. Klar, so ganz in die Tiefe geht Sing Sing dabei nicht, dafür reicht der Rahmen nicht aus. Hier laufen so viele Leute herum, dass ein einzelner Film ihnen nicht gerecht werden kann, da hätte es schon eine Serie gebraucht. Es gelingt aber, das Publikum daran zu erinnern, dass es sich um Individuen handelt, mit eigenen Geschichten, und diese mehr sind als die Verbrechen, die sie begangen haben.

Ob man als Protagonisten unbedingt jemanden gebraucht hätte, der tatsächlich unschuldig ist, darüber lässt sich streiten. Ein wenig wird der Grundgedanke der Rehabilitation sabotiert, wenn jemand das Verbrechen gar nicht begangen hat. Interessant ist John dennoch, gerade auch durch die einfühlsame und bewegende Darstellung von Colman Domingo (Rustin) als Mann, der inmitten der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit nach der Freude sucht, nach einer Möglichkeit, jemand zu sein, Mensch zu sein. Das Drama, das 2023 auf dem Toronto International Film Festival Premiere hatte, geht zu Herzen. Sing Sing ist trotz des düsteren Ortes ein irgendwie schönes und lebensbejahendes Werk, das sich ohne kitschige Betroffenheit für Mitgefühl stark macht – was in der aktuellen Situation mehr als willkommen ist.
Fazit: Sing Sing erzählt von einem Mann, der in einem Gefängnis eine Theatergruppe leitet und selbst in mehrfacher Hinsicht zu kämpfen hat. Dabei handelt es sich um zutiefst menschliches Drama, welches ohne Klischees und Kitsch daran erinnert, dass Verbrecher mehr sind als ihre Taten. Das starke Ensemble wird von einer Oscar würdigen Performance von Colman Domingo angeführt, der dieses Jahr zurecht seine zweite Oscarnominierung in Folge erhalten hat, aber auch Clarence Maclin und Paul Raci hätten mehr Beachtung verdient gehabt.

Regie: Greg Kwedar
Genre: Drama
Darsteller: Colman Domingo, Clarence „Divine Eye“ Maclin, Sean San José, Paul Raci, Sean „Dino“ Johnson, Jon-Adrian „Jj“ Velazquez, uva.