Heldin (IT: Late Shift)

Heldin" - Ein außergewöhnlicher und intensiver Film zum Thema Pflege | Breitbild
Tobias Film

Floria (Leonie Benesch) arbeitet als Pflegefachkraft auf der chirurgischen Station eines Schweizer Krankenhauses. Als sie ihren Spätdienst beginnt, erfährt sie, dass eine Kollegin ausfällt. Jetzt soll sie nur mit Kollegin Bea (Sonja Riesen) und einer Schwesterschülerin 26 Patient*innen betreuen. Ein Patient muss rasch im Bett zur Operation gefahren werden, eine Frau beklagt sich auf dem Gang, dass ihre Infusion längst ausgewechselt gehört. Der alte Herr Leu (Urs Biehler) wartet schon den ganzen Tag auf die Ärztin, die endlich kommen wollte, um ihm die Untersuchungsergebnisse mitzuteilen. Floria beginnt ihre Runde von Zimmer zu Zimmer, begrüßt die Patienten und Patientinnen freundlich, misst Blutdruck, zieht Spritzen auf. Ständig kommt etwas dazwischen, sie muss ans Telefon, Operierte abholen, wartende Angehörige vertrösten. Im Stress macht sie einen Fehler. Doch die Nacht hält noch mehr Dramen für sie bereit…

Viel ist über den Pflegenotstand die Rede. Man hört von unterbesetzten Krankenhäusern, die sogar manche Betten nicht belegen können, weil das Pflegepersonal fehlt, man liest über den Sparzwang im Gesundheitswesen. Die Schweizer Regisseurin und Drehbuchautorin Petra Volpe (Die göttliche Ordnung) legt den Finger direkt in die Wunde dieses gesellschaftlichen Missstands. Sie lässt das Publikums ihres Spielfilms eine Schicht an der Seite der Pflegefachkraft Floria durchstehen. Besser, drastischer als auf diese Weise kann die ganze Tragweite des Dramas, das die politisch Verantwortlichen – oder wir alle – den Pflegekräften und den Klinikpatienten durch Wegschauen und Achselzucken zumuten, nicht demonstriert werden.

Kritik zu Heldin | epd Film
Tobias Film

Zwar spielt der Film in der Schweiz, aber ein Spätdienst wie Floria ihn erlebt, gehört wohl auch in Deutschlands Kliniken zum Alltag. Volpe ließ sich vom Buch Unser Beruf ist nicht das Problem – es sind die Umstände der in Deutschland arbeitenden Pflegerin Madeline Calvelage inspirieren. Die Regisseurin vertraut völlig zu Recht auf die starke Spannung, welche eine solche Schicht zum Drama macht und legt dabei großen Wert auf Authentizität. Eine Krankenpflegerin begleitete die Dreharbeiten beratend. Hauptdarstellerin Leonie Benesch absolvierte, um sich auf ihre Rolle vorzubereiten, ein Praktikum in einem Schweizer Spital.

Was diesen aufwühlenden Film von einem dokumentarischen Werk unterscheidet, ist der subjektive Blick, der Leonie Beneschs Charakter gehört. Als Floria trägt die Schauspielerin den ganzen Film emotional, ist sie der Mensch, der sich verantwortlich fühlt. Benesch spielt vollkommen zurückgenommen, aber schon in der hochkonzentrierten Art, wie Floria eine Spritze vorbereitet, verrät ein mehr geahntes als gesehenes Zittern ihrer Finger, welchen Zeitdruck sie gerade zu meistern versucht. Denn sie wird gerade auch an verschiedenen anderen Stellen dringend gebraucht. Sie hält das System am Laufen, indem sie Prioritäten setzt, es erträgt, sich hier und dort zu verspäten und zu wissen, dass sie nicht alle Patient*innen so gut betreut, wie es ihrer eigenen Berufsauffassung entspricht. Ein starkes metaphorisches Bild für die Überforderung ist die Szene, in der sie nachts im buschigen Gestrüpp vor der Klinik nach einer weggeworfenen Armbanduhr wühlt.

Heldin – im KINOPOLIS Bad Homburg
Tobias Film

Das Publikum schaut auf Floria auch aus der Sicht der verschiedenen Patienten. Manche von ihnen merken instinktiv, dass sie Floria nicht lange aufhalten dürfen. Sie ist sachlich, aber dennoch nahbar. Als eine demente Patientin furchtbar aufgeregt das Bett verlassen will, singt sie mit ihr zusammen mehrere Strophen von Der Mond ist aufgegangen. Das dauert nicht länger als vielleicht drei Minuten – und das Ergebnis ist frappierend. Floria findet quasi im Vorbeigehen tröstende Worte hier und dort, bleibt ein menschliches Gegenüber. Nicht alle sehen sich so in der Pflicht für die Patienten wie sie, wie eine Szene zeigt, in der die Pflegerin die Ärztin zur Rede stellt, die den alten Herrn Leu nicht besucht. Es passieren in dieser Spätschicht schlimme Dinge, die Floria an ihrer Eignung und Kraft zweifeln, sie in Tränen ausbrechen lassen. Es liegt an der großartigen Leonie Benesch und an Petra Volpes umsichtiger Inszenierung, dass einen dieser aus dem Leben gegriffene Stoff so nachhaltig berührt.

Fazit: Unter der Regie von Petra Volpe erlebt das Publikum die Klinik-Schicht einer Krankenpflegerin aus deren subjektiver Perspektive mit. Leonie Benesch verleiht der Hauptfigur professionelle Sachlichkeit, aber auch eine hohe Empfindsamkeit. Mit ihr verwandelt sich der beinahe dokumentarisch anmutende Stoff in ein aufwühlendes Drama, das man nicht so schnell vergisst. Es zeigt auf eindringliche Weise, was der Pflegenotstand auf einer Klinikstation konkret bedeutet und mit einer Person macht, die ihren Beruf ernst nimmt.

Deutschland / Schweiz – 1 Std. 32 Minuten
Regie: Petra Biondina Volpe
Genre: Drama
Darsteller: Leonie Benesch, Sonja Riesen, Alireza Bayram, Selma Aldin, Urs Bihler, Jürg Plüss, Andreas Beutler, Lale Yavas, Elisabeth Rolli, Urbain Guiguemdé, Doris Schefer, Margherita Schoch, uva.

 

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