Erneut hatte ich sozusagen das Privileg, in unserem zumeist am Mainstream orientierten Kino einen ausländischen Arthaus-Film sehen zu dürfen, der ins Rennen für den „Besten Fremdsprachigen Film“ geht. Das Besondere an „Das Mädchen Wadjda“ ist vor allem, dass er nicht nur der erste Oscarbeitrag Saudi-Arabiens ist, sondern darüber hinaus der erste (!) jemals vollständig im arabischen Königreich gedrehte Spielfilm ist. Dies dürfte vor allem an der traurigen Tatsache liegen, dass dort sowohl das Filmemachen als auch das Betreiben von Lichtspielhäusern generell verboten ist. Deshalb war ich ganz besonders gespannt auf das Erstlingswerk (!) der Regisseurin Haifaa al-Mansour und die zu erwartende Andersartigkeit.
„Wadjda“ beleuchtet den Alltag eines 11-jährigen, in der Hauptstadt Riad lebenden und äußerst schlagfertigen Mädchens. Ihre Eltern sind liberaler als die meisten anderen Landsleute beziehungsweise sind mit den eigenen, innerehelichen Problemen beschäftigt, sodass Wadjda viele Freiheiten hat, die insbesondere weiblichen Kindern nicht offenstehen. Doch ihr größter Wunsch ist es, sich ein grünes Fahrrad zu kaufen und mit einem Nachbarsjungen um die Wette zu fahren. Jedoch ist Mädchen weder der Besitz noch die Nutzung eines Fahrrads gestattet. Trotz allem lässt sie sich von den Konventionen nicht beirren und kämpft für ihren Traum. Um das Preisgeld zu gewinnen, nimmt sie schließlich selbstbewusst an einem Koranvers-Rezitationswettbewerb teil.
Dass der Streifen bei den Filmfestspielen von Venedig als „kleine Sensation“ betitelt worden ist, kann ich unterstreichen beziehungsweise würde ich sogar so weit gehen, diese Aussage mit dem Adjektiv „groß“ steigern zu wollen. Haifaa al-Mansour, welche auch das gelungene und sogar in Ansätzen wohldosiert humoristische Drehbuch verfasst hat, rüttelt mit ihrer realistischen Kulturskizze anschaulich und gleichermaßen subtil, aber niemals übertrieben an muslimischen Traditionen, die so alt sind wie das Land selbst. Gerade dieses Momentum ist als mutig und gleichermaßen notwendig anzusehen. Ideal ist vor allem, dass er kritisiert ohne zum bloßen Selbstzweck anzuprangern, denn das gezeigte Mädchen wird nicht in der bemitleidenswerten Opferrolle dargestellt, sondern als kleine Heldin, die sich nicht mit der untergeordneten Stellung der Frau abfindet. Es war darüber hinaus unglaublich berührend, dass gerade ein (für die westliche Welt) alltäglicher Gegenstand wie ein Fahrrad eine derartige Symbolkraft erhält und den Film durchgängig mit Lebendigkeit erfüllte. Zwar war die Lauflänge für meinen Geschmack etwas zu wenig von umfangreichen Dialogen durchzogen, doch das Sujet erzeugt aufgrund der besonderen Gestaltungsweise nichtsdestotrotz nachdrücklich tiefe Emotionen. Zudem ist die Geschichte besonders kontrastreich umgesetzt worden, weil die beiden logisch ineinander- greifenden Handlungsstränge verdeutlichen, wie viel Männer in diesem Staat dürfen (Stichwort: Polygamie) und wie wenig dagegen die Frauen.
Dass „Das Mädchen Wadjda“ eine Koproduktion von Saudi-Arabien und Deutschland ist, merkte man gerade wegen der hohen Güte auf inszenatorischer. Abgerundet wird die unbeschönigende, gleichwohl ätherisch-orientialische Szenerie nämlich durch eine effektvolle, fokussierende Arbeit der Kameramänner sowie eine großartige filmmusikalische Begleitung, wofür jeweils Deutsche verantwortlich waren. Einen solch schönen, perfekt zur Thematik passenden Score habe ich schon seit Langem nicht mehr gehört, auch wenn ich kritisch anmerken muss, dass man ruhig noch mehr Szenen mit solchen Tönen untermalen hätte können und sollen, denn dann wäre die Atmosphäre noch ergreifender gewesen als ohnehin schon.
Auch in darstellerischer Hinsicht weiß der Film zu überzeugen. Dass es talentierte Schauspieler im arabischen Raum gibt, weiß ich spätestens seit dem aus meiner Sicht ebenfalls gelungenen „Machtlos“. Vor allem die junge Waad Mohammed meistert ihre anspruchsvolle Hauptrolle mit Bravour & einem ganz eigenen, unerwarteten Charme und wird so schnell zur absoluten Sympathieträgerin, mit der man absolut mitfühlen möchte, wenn man es aufgrund des Kontextes als Europäer vielleicht gar nicht kann. Das schauspielerische Highlight war für mich die strikte Schuldirektorin, gespielt von der authentischen und eisenharten Ahd Kamel sowie die Filmmutter, während Sultan Al Assaf in der (vielleicht auch zu kleinen Rolle) des Vaters etwas hölzern agierte. Ein dickes Lob geht zudem mal wieder an die Verantwortlichen der gelungenen, deutschen Synchronisation.
Sofern der Zuschauer also bereit ist, sich auf Wadjdas besondere Geschichte einzulassen, wird er einem Werk mit minimalen Abstrichen gewahr, dass in dieser Form noch nie da gewesen ist. Gerade deshalb ist es über die Maßen schade, dass das saudi-arabische Publikum die Geschichte wohl größtenteils nie zu sehen bekommen wird, denn dieser schöne, zum Nachdenken anregende Film ist als stiller Protest gegen mittelalterlich-religiöse Dogmen anzusehen, der noch dazu einen tollen, berührenden Schluss hat und es einfach verdient, gesehen zu werden. Er ist meines Erachtens der bisher mit Abstand beste ausländische Film des Jahres, weswegen es mich sehr freuen würde, wenn er im kommenden Jahr den Oscar erhält, auch wenn der erst zwei Jahre zurückliegende Sieg des Irans in derselben Kategorie dies leider unwahrscheinlich erscheinen lässt.