Ist es in unserer Zeit wirklich notwendig oder sogar eine außerordentliche Kunst, wenn man derart umfassende, pornographisch anmutende Szenen in Spielfilme packt? Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, während ich mir Abdellatif Kechiches kontrovers diskutierten Film zu Gemüte führte. Ich hatte mir von dem Drama in seiner Gesamtheit – und das liegt letztlich nicht nur an der Übersextheit – einfach etwas mehr versprochen.
Zugegeben, der Versuch der Darstellung (also vor allem das nuancierte Drehbuch und die allgemeine Intention) imponiert mir überaus, doch die Umsetzung gelang leider nur auf durchschnittlicher Ebene. So ist die Laufzeit schlicht und ergreifend mindestens eine Dreiviertelstunde zu lang geraten, denn dadurch gerät der Fokus teilweise in den Hintergrund. Die Thematik der noch immer nahezu alltäglichen Homophobie wird im Gegenzug unheimlich realitätsnah und unverblümt angegangen und umgesetzt, was einen der größten Pluspunkte des Dreistünders darstellt. Mein großes Problem war aber, dass ich die lesbischen, nah aufgenommenen Liebesszenen zwar durchaus als mutig einstufen würde, sie allerdings leider als unauthentisch, fast schon etwas klischeehaft, empfunden habe. Es ist schade, denn ich kann mir vorstellen, dass sich viele Heterosexuelle den Liebesakt zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren wohl genau so vorstellen: Triebgesteuert, unbeholfen, angestrengt und quasi unecht. Die beiden Frauen zeigten also viel Haut, doch ihre Herzen „sah“ ich als Zuschauer unglücklicherweise nur selten durchscheinen.
Einige Sequenzen, welche vor allem ganz am Anfang oder insbesondere ganz am Ende des Films gelagert sind, sind wirklich als stark einzuschätzen und von tiefsinnigen, fast schon symbolhaften Dialogen durchzogen, andere wiederum verbreiteten eine gewisse Langatmigkeit. Es mag sein, dass die Szenen, in denen die beiden jungen Frauen bei ihren jeweiligen Schwiegereltern zum Essen eingeladen sind, insofern notwendig waren, als dass sie allgemeine Einstellungskontraste offenlegten, jedoch möchte ich Menschen beispielsweise auch nicht über eine gefühlte Ewigkeit beim Nudelverzehr zusehen. Die meisten anderen, inszenatorischen Kontrastierungen gefielen mir nämlich wirklich gut. Wären die langatmigen Sequenzen nicht gewesen, hätte ich den ungewöhnlichen, aber intensiven Weg zum Erwachsenwerden mit noch mehr Interesse verfolgt.
Adèle Exarchopoulos ist zweifellos mit Abstand das darstellerische Highlight. Gemessen an ihrer Unerfahrenheit spielte sie überzeugend und facettenreich, zumindest wenn sie angezogen zu sehen war. Dass sie zum Liebling der Kritiker geworden ist, wundert mich nicht, denn ihre Rolle wird Einiges abverlangt haben und erforderte Mut, Sensibilität und Talent zugleich. Interessanterweise stimmte die Beziehung zwischen ihr und Seydoux gerade außerhalb der Erotikphasen am besten – ich erinnere hierbei nur kurz an die großartig inszenierte Schlussszene, was impliziert, dass unnötigerweise zu viel Gewicht auf ausschweifende Elemente gelegt worden ist. Seydoux spielte ebenfalls bemüht, kann Exarchopoulos‘ Leistung aber in meinen Augen letzten Endes aber nicht das Wasser reichen, weil ich ihr nicht alle Szenen wirklich abkaufen konnte. Den anderen Mitgliedern des Ensembles wurde wohl bewusst geringe Zeit eingeräumt, was ein verständliches Stilmittel gewesen sein könnte.
Abschließend kann ich sagen, dass „Blau Ist Eine Warme Farbe“, obwohl es auf keinen Fall das von mir erhoffte Meisterwerk geworden ist, ein immernoch sehenswerter Film ist – dank einer gänzlich überzeugenden Hauptdarstellerin, einer unvergleichbaren Intention und diversen Momenten voller seelischer Spannung und Zerrissenheit. Die exzessive Sexdarstellung hat diese jedoch meiner Meinung nach jedoch unterbrochen und man muss sich angesichts des angeblich harten Umgangs des Regisseurs mit den Schauspielern schon fragen, wie man im Filmgeschäft gehen darf und soll… Dass er in vielen Nominierungslisten auftauchte, ist natürlich nicht unverdient, allerdings halte ich persönlich „Das Mädchen Wadjda“ und „Le Passé“ für die eindeutig gelungeneren, ausländischen Beiträge in diesem Jahr.