Birdman oder (die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) (OT: Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance))

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Riggan Thomson (Michael Keaton) gehörte einst zu den gefeiertsten Schauspielern seiner Zeit. Seine Titelrolle als Superheld „Birdman“ brachte die Kinokassen bis Mitte der 1990er-Jahre in drei Filmen weltweit zum klingeln und galt als Auslöser für den Boom und Erfolg der heutigen Comicfilm-Welle. Doch Thomsons einst so glanzvoll strahlender Stern ist nahezu verglüht. Seine Fans verehren ihn zwar noch immer, aber nur für das was er war, nicht was er jetzt ist oder sein möchte. Trotzdem oder gerade deshalb will er der Welt und all seinen Kritikern nun beweisen, dass in ihm nicht nur ein abgehalfterter Blockbusterkönig steckt, sondern ein ernstzunehmender Charaktermime.

Am Broadway inszeniert er daher das Stück „What We Talk About When We Talk About Love“ des Schriftstellers Raymond Carver als Regisseur, Autor und Hauptdarsteller in Personalunion. Carver hatte Riggan einst als Jungen in einer Schulaufführung spielen sehen und ihn ermuntert professioneller Schauspieler zu werden.
Doch die Vorbereitungen sind ein einziges Chaos. Die Kostüme stimmen hinten und vorne nicht, die Finanzierung ist gefährdet und zu allem Übel ist der zweite Hauptdarsteller eine absolute Niete. Und die Premiere rückt unaufhaltsam näher. Am nächsten Tag soll sogar bereits die erste von drei Vorpremieren stattfinden. In seiner Not inszeniert Riggan einen Unfall, indem er seinem Co-Darsteller eine Bühnenleuchte auf den Kopf fallen lässt.
Doch woher soll er jetzt auf die Schnelle einen geeigneten Kandidaten finden? Michael Fassbender? Ist mit dem Prequel zum Prequel von „X-Men“ beschäftigt! Jeremy Renner? Wer zum Teufel ist Jeremy Renner? Alle guten Charaktermimen scheinen gerade selbst mit Superheldenfilmen Erfolge zu feiern. Riggans bester Freund, der bodenständige und ansonsten gutmütige Anwalt Jake (Zach Galifianakis), der das Stück produziert, steht mittlerweile auch kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Doch dann kommt Hauptdarstellerin Lesley (Naomi Watts), die mit diesem Stück ihren Durchbruch als Broadway-Schauspielerin schaffen möchte, mit der Rettung. Sie konnte ihren Freund, den gefeierten Theaterstar Mike Shiner (Edward Norton), überzeugen die Rolle zu übernehmen. Also beginnen noch am selben Abend die Proben mit Mike. Der stellt sich allerdings schnell als sehr exaltiert und egozentrisch heraus. Doch Riggan bleibt keine Wahl. Mike kann nicht nur die Rolle durch das gemeinsame proben mit Lesley, er ist auch noch ein weiteres perfektes Zugpferd für die nötige Public Relation.

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Die erste Previewshow von „What We Talk About…“ wird dennoch zu einem einzigen Desaster als Mike sturzbetrunken das Stück an sich reißt und beinahe zur Farce verkommen lässt. Riggan weiß nicht mehr weiter. Wie soll er das Stück, seinen Lebenstraum, nur auf die Reihe kriegen? Aber als wäre all das nicht schon genug, kommen auch noch Probleme mit seiner Tochter Sam (Emma Stone) die, frisch aus einem Entzug kommend, für ihn als Assistentin arbeitet, jedoch aus ihrer fehlenden Motivation keinen Hehl macht und zudem noch von Mike angegraben wird, seine unglückliche Beziehung zur jungen aber vereinnahmenden Schauspielerin Laura (Andrea Riseborough), sowie der Umstand mit der Theaterkritikerin Tabitha (Lindsay Duncan), die für ihre harschen Premieren-Verrisse berühmt-berüchtigt ist, hinzu. Und dann ist da auch noch ständig die Stimme seines Alter Ego in seinem Kopf, die ihn dazu bringen will diesen ganzen Kunstscheiß einfach in den Wind zu schießen und doch das Angebot zu einem vierten „Birdman“-Teil anzunehmen, auch wenn er damit seine Seele verkauft. …

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Mit dem Begriff Meisterwerk sollte man zwar nicht all zu inflationär um sich werfen, doch auf die Filme von Alejandro González Iñárritu traf diese Bezeichnung in der Vergangenheit immer zu. Und mit „Birdman“ hat er nun definitiv sein absolutes Meisterstück abgeliefert. Denn dieser Film ist in jeder Hinsicht perfekt!

Das Drehbuch wartet mit hinreißend geschliffenen Dialogen, brillanten Ideen bei Riggans Tagträumen und einer vortrefflichen Charakterzeichnung und Entwicklung seiner Figuren auf. Alle Personen wirken absolut echt.
„Birdman“ gehört zudem zu den besten Filmsatiren die je über den Wahnsinn der Traumfabrik Hollywood gedreht wurden. Es ist sozusagen das „Boulevard der Dämmerung“ des 21. Jahrhunderts und wird in einigen Jahren definitiv in einem Atemzug mit diesem genannt werden. Doch der Film ist nicht nur eine bitterböse Abrechnung mit der Funktionsweise und Studiopolitik der heutigen Filmindustrie, sondern funktioniert ähnlich wie „The Artist“ zugleich auch als verkappte Liebeserklärung. Ein wahrer Geniestreich!

Iñárritu hat zudem erneut ein wahrhaft goldenes Händchen mit seinem Cast bewiesen.
Michael Keaton ist als früherer „Batman“-Darsteller natürlich die Idealbesetzung, doch was er hier abliefert ist mit einem Wort einfach nur überwältigend. Er spielt sich in einen wahren Rausch und liefert die mit Abstand beste Leistung seiner gesamten Karriere ab! Egal ob in den ruhigen Momenten, den komischen oder den wahnhaften, in denen er in seine alte tiefe „Batman“-Stimme verfällt, er ist durchgehend eine Naturgewalt. Eine Oscar-Nominierung ist Pflicht und eine Auszeichnung sogar mehr als wahrscheinlich, verdient wäre sie zu 100%!
Aber auch die anderen Darsteller laufen zu absoluter Höchstform auf. Edward Norton hat man zuvor noch nie in einer dermaßen abgefahrenen Rolle gesehen, man merkt ihm den Spaß an dieser Rolle in jeder Sekunde an. Nachdem er in den letzten Jahren seine Fähigkeiten ebenfalls nur wenig unter Beweis stellen konnte, liefert er hier nun seine beste Performance seit „American History X“! Auch hier sollte eine Oscar-Nominierung Pflicht sein. Und bei Emma Stone ebenso. Sie überzeugt als ehemalige Junkie-Tochter von Keaton in ihrer ernsthaftesten und erwachsensten Rolle und spielt ebenfalls exorbitant. Ein weiteres Highlight war zudem für mich Zach Galifianakis, der seit „Hangover“ leider immer wieder denselben überdrehten Charakter gespielt hat und bei diesem Film nun auch endlich einen herrlich unaufgeregten Typen mimen darf. Ebenfalls seine mit Abstand geerdeteste und beste Leistung seiner bisherigen Laufbahn.

Technisch überzeugt „Birdman“ auch auf allen Ebenen. Trotz seiner geringen Produktionskosten stehen die visuellen Effekte denen großer Blockbuster im dreistelligen Millionenbereich in absolut nichts nach und die Tonarbeit ist ebenfalls echt brillant.
Das absolute Highlight ist jedoch erneut die unfassbar sensationelle Kameraarbeit von Emmanuel Lubezki. Er hat sich wieder einmal selbst übertroffen und sollte seinen zweiten Oscar in Folge einstreichen, alles andere wäre blanker Hohn.
Denn wie Lubezki hier ohne einen einzigen offensichtlichen Schnitt den Film quasi in einer einzigen durchgehenden Sequenz einfängt ist wahrhaft meisterlich, in Wahrheit benutzt er auch nur wenige digitale Schnitte, die ähnlich wie die Überblendungen in Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ funktionieren. Die Kamera fährt, schwebt und fliegt also wie von allen physikalischen Zwängen befreit zwei Stunden lang durch die einzelnen Szenen, das einem das Herz aufgeht.

Der ungewöhnliche Drum-Score des mexikanischen Jazzmusikers Antonio Sánchez klingt dagegen zu Beginn zwar noch etwas fremdartig, passt aber absolut perfekt zur Szenerie und dürfte daher auch gerne mit einer Score-Nominierung belohnt werden.

„Birdman“ läuft am 29. Januar 2015 in den deutschen Kinos an und ist eine unbedingte Pflichtveranstaltung für jeden Cineasten und Filmliebhaber. Ein Meisterwerk für die Ewigkeit!


USA – 2014 – 1 Std. 59 Min.
Regie: Alejandro González Iñárritu
mit Michael Keaton, Edward Norton, Emma Stone, Naomi Watts, Zach Galifianakis, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Merritt Wever, Lindsay Duncan, Natalie Gold, Jeremy Shamos & Frank Ridley
Genre: Drama, Komödie

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