Nachdem das sich das Anfang dies Jahres veröffentlichte, religionshistorische Drama „Silence“ trotz immenser Erwartungen nicht nur als verkapptes und in vielen Belangen redundantes Filmerlebnis mit Nischenqualität, sondern auch als einer der größten Flops innerhalb der Filmographie des insgesamt achtfach als „Bester Regisseur“ für den Oscar vorgeschlagenen Altmeisters Martin Scorsese erwies, neigte wohl nicht nur meine Wenigkeit zielstrebig zu sehnsuchtsvollen Vergleichen mit den jeweiligen Vorgängern. Dies wiederum führte unweigerlich zu einer erneuten Inaugenscheinnahme des Psychothrillers „Shutter Island“, welcher schon damals immensen Eindruck hinterließ und auch mit gewissem Abstand getrost zur Zierde des gesamten, häufig unterrepräsentierten Filmgenres gezählt werden kann. Ursächlich dafür ist einerseits das uneingeschränkte, erneute Auftrumpfen des Traumgespanns DiCaprio/Scorsese, jedoch in selber Weise das bis zur Virtuosität ausgeformte, undurchsichtige Spiel mit Suggestivität und den Abgründen menschlicher Existenzen.
Angesiedelt auf einer fiktiven, titelgebenden Insel in der Abgeschiedenheit des Atlantiks beschäftigt sich das Werk zunächst mit dem rätselhaften Verschwinden einer psychotischen Patientin der dortigen Nervenheilanstalt, dem der Kriegsveteran und US-Marshall Edward Daniels auf den Grund gehen soll und sich nach und nach als Opfer einer bitterbösen Verschwörung wähnt. Gewinnbringende Basis des rasierklingenscharfen, überaus doppelbödigen Drehbuchs rund um Realitätsverlust, tiefgreifende Traumata und Selbstvorwürfe bildet der gleichnamige, bereits 2003 erstmals publizierte Kriminalroman des US-Iren Dennis Lehane, welcher die ebenfalls für die Leinwand adaptierten Werke „Mystic River“ und „Gone Baby Gone“ verfasste. Obwohl die Handlung inmitten der frühen 1950er „Trümmerjahre“ eingebettet ist, mutet das grundlegende Handlungsgeflecht nicht nur aufgrund der skizzierten Rückständigkeit der Zustände und Behandlungsmethoden in psychiatrischen Anstalten ungeahnt aktuell an und forciert in Folge eines Openings im Horrorstil der alten Schule die Kontrastierung von Wahn und Wirklichkeit, zwischen denen das Publikum schrittweise immer weniger unterscheiden kann. Getragen von einer schier überragenden, angsteinflößenden und eine Sogwirkung entfaltenden Kameraführung, der einmal mehr perfektionistischen Schnittarbeit von Thelma Schoonmaker sowie dem Wechsel zwischen dröhnenden und einfühlsamen Klängen, entwickelt sich die Atmosphäre durch Rückblenden, ideal platzierten Atempausen und der inszenatorischen, wiederkehrenden Gegenüberstellung der Elemente Feuer und Wasser zu einem unentrinnbaren, hochspannenden Labyrinth voll von Undurchsichtigkeit, Brutalität und historischen Anleihen, in dem nahezu jeder der zunächst bedeutungsarm erscheinenden Gespräche später eine tiefere Bedeutung erlangt, weswegen man es beinahe bedauerlich erscheint, dass man dem extremen, logikspendenden Twist des finalen Drittels nur ein einziges Mal gewahr werden kann. Darüber hinaus gelang es den Machern, ein grandioses Starensemble aus insgesamt sieben (!) oscarnominierten Schauspielern zusammenzutrommeln, die allesamt trotz der komplizierten Personenkonstellation als uneingeschränkte Einheit fungieren können. Es birgt eine gewisse Tragik in sich, dass Leonardo DiCaprio insbesondere für zwei seiner furiosesten, psychisch herausforderndste Hauptrollen nicht die verdiente Berücksichtigung erhalten hat, denn genau wie in „Zeiten Des Aufruhrs“ blieb er auch für ebendiese außergewöhnliche Verkörperung eines zutiefst zerrissenen Charakters außen vor. Während Mark Ruffalo als reduziert agierender Ruhepol überzeugt und Michelle Williams, Max von Sydow sowie Patricia Clarkson ihr unbestreitbares Geschick beweisen, aus einer begrenzten Screentime Substantielles herauszuholen, wird einem ferner bewusst, wie schmerzlich man Ben Kingsley inzwischen in einer nuancierten und anspruchsvollen Rolle wie dieser vermisst.
Entgegen der meisten Kritiker und Filmfreunde zählt „Shutter Island“ trotz seiner nicht gerade unbeträchtlichen Lauflänge neben „Kundun“ und „Aviator“ folglich zu meinen persönlichen Favoriten aus der zweiten Hälfte der Schaffensphase von Martin Scorsese, der nicht nur nervenzerreißend spannende und unter die Haut gehende Momente bereithält, sondern auch wegen der symbolistischen, anspruchsvollen Bildsprache dauerhaft im Gedächtnis zu verbleiben vermag, sofern man bereit ist, sich dem Dargebotenen zu stellen. Ein weiteres Mal dürfte es wohl dem Umstand eines äußerst ungünstigen Kinostarttermins zwischen den jeweiligen Saisons zu schulden sein, dass „Shutter Island“ trotz all seiner unverkennbaren Vorzüge und handwerklichen Raffinesse unglücklicherweise in keiner einzigen Sparte auch nur in der Nähe des Radars der Academy landete…