Was den Briten das „Glastonbury Festival“, den Italienern „Il Festival della canzone italiana“ in Sanremo oder unseren österreichischen Freunden das „Donauinselfest“ in Wien, das ist den Polen ihr „Krajowy Festiwal Piosenki Polskiej“ (Landesfestival des Polnischen Liedes) in Opole. Das größte und wichtigste Musikfestival des Landes.
Am 21. Juni 1973 gewann der polnische Sänger Stan Borys dort einen Preis für sein Lied „Jaskółka uwięziona“ (Die eingesperrte Schwalbe) und landete damit auch einen der bis heute größten Hits der polnischen Musikgeschichte.
Jener euphorische Abend sollte aber in diesem Film auch zu einem unheilvollen Datum in der Familiengeschichte der kleinen Agnieszka werden. Ein Kindheitstrauma mit dem sie seitdem ihr ganzes Leben zu kämpfen hatte.
Im Jahr 2000, zu Ostern, besucht die mittlerweile Mitt-Dreißigerin Agnieszka (Ewa Kustusz) zum ersten Mal seit über 15 Jahren wieder ihren verhassten Vater Zdzisław (Marcin Włodarski) im polnischen Hinterland, einen heruntergekommenen erfolglosen Musiker, der seinen Frust lange Jahre im Alkohol ertränkt und an seiner ersten Frau, Agnieszkas Mutter, ausgelassen hat. Sie kommt zusammen mit ihrer Tochter, die mittlerweile fast so alt ist wie Agnieszka anno 1973.
Auf der Hinfahrt läuft im Taxi wieder „Jaskółka uwięziona“ im Radio. Doch Agnieszka hasst dieses Lied, weckt es doch ungute Erinnerungen, zudem heißt sie auch noch Jaskółka mit Nachnamen, was ihr bereits in der Schule zusätzlich viel Spott und dumme Bemerkungen eingebracht hat.
Als sie in ihrem ehemaligen Zuhause ankommt, erkennt sie ihren Vater beinahe nicht wieder, er ist nur noch ein Häufchen Elend, der sich seiner Vergangenheit schämt und Agnieszka inständig um Verzeihung bittet, doch sie kann ihm nicht einfach so ohne weiteres vergeben.
Ihre Mutter war bereits gestorben als sie noch ein Teenager war. Mittlerweile lebt Zdzisław mit der ehemaligen Nachbarin Jadzia (Barbara Dembińska) zusammen, mit der er bereits zu Lebzeiten seiner Frau eine Affäre hatte, nachdem Jadzias Mann von einem auf den anderen Tag einfach verschwunden ist.
Im Laufe ihres Aufenthaltes erkennt Agnieszka schließlich nach und nach, dass ihr Trauma sogar noch weit tiefer geht als ihr bewusst war, sie einige unfassbare Details die ganzen Jahre komplett verdrängt hatte. …
Bei „Jaskółka“ handelt es sich um Bartosz Warwas‘ Abschlussarbeit der Filmhochschule Łódź und es ist seit über 50 Jahren erst der zweite Abschlussfilm dieser Uni, der einen internationalen Vertrieb erhalten hat! Allein an dieser Tatsache kann man bereits erkennen, dass hier eine echte Perle des polnischen Kinos vorliegt.
Warwas hat einen zutiefst bewegenden Film geschaffen, der extrem unter die Haut geht. Phasenweise tieftraurig, mit einigen schockierenden Ereignissen, dazwischen aber auch immer wieder humoristisch durchbrochen, besonders in den frühen Rückblenden.
Die technische Seite des Films ist ebenfalls hervorragend. Warwas arbeitet mit raffinierten Rück- und Zwischenblenden, die den Zuschauer mehr als einmal auf eine falsche Spur führen, manchmal beinahe beiläufig wichtige Details preisgeben und am Ende mit der vollständigen Auflösung des Familiengeheimnisses einen echten Hammer enthüllen, der noch länger nachhallt.
Die Kamera liefert rauhe dreckige Bilder, die das trostlose polnische Dorfleben der 1970er-Jahre perfekt einfängt.
Die Laufzeit ist mit weniger als 75 Minuten zudem angenehm kurz, in diesem Fall sogar fast ein wenig zu kurz meines Erachtens. ich hätte zumindest noch gut und gerne 15 Minuten weiter schauen können.
Polen – 2014 – 1 Std. 13 Min.
Regie: Bartosz Warwas
mit Ewa Kustusz, Marcin Wlodarski, Barbara Dembińska, Michał Staszczak, Bronisław Wrocławski, Dorota Kiełkowicz, Tomasz Kubiatowicz & Bogusław Suszka
Genre: Drama