Nicht nur das diesjährige Line-Up der Academy, sondern auch die Saison im Allgemeinen scheint durchzogen von faustdicken Überraschungen zu sein. Ich bin bekanntlich weder ein großer Freund des Westerngenres noch sehe ich es bis heute als gerechtfertigt an, dass sich Hilary Swank genau wie die Leinwanddiven Olivia de Havilland und Elizabeth Taylor als zweifache Oscargewinnerin bezeichnen darf. Diese beiden Faktoren führten mich vorab zur Mutmaßung, dass mich Tommy Lee Jones’ erst zweite Regietätigkeit „The Homesman“ nicht sonderlich ansprechen dürfte. Viele wird es daher nicht überraschen, wenn ich die Besetzung von Meryl Streep in der einer Nebenrolle als die Hauptursache für die verhältnismäßig schnelle Sichtung dieses Films anführen muss. Was ich letzten Endes durch den auf den Filmfestspielen von Cannes uraufgeführten Zweistünder geboten bekam, war weitaus mehr als eine dieser baugleichen Wildwestproduktionen…
Angesiedelt ist die auf einem Originaldrehbuch basierende Geschichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Nebraska. Die resolute, trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch immer ledige, unbedarfte Mary Bee rettet per Zufall den Tagedieb George Briggs vor der Hinrichtung und verlangt von ihm als Gegenleistung, drei Frauen, welche aufgrund der schweren Lebensbedingungen inmitten der Einöde dem Wahnsinn verfallen sind, in der Funktion eines „Homesmans“ zur Therapie nach Iowa zu eskortieren… Obwohl die Handlung einfach zusammengefasst werden kann, strotzt die Inszenierung von einem sicheren Gespür, was den gesellschaftlichen Kontext inmitten des Mittleren Westens, damit verbundene, starre Konventionen und das harte Los des weiblichen Geschlechts anbetrifft. Im Gegensatz zu anderen Gattungsvertretern stehen nicht primär Revolverduelle oder aber Tabak kauende Draufgänger im Vordergrund, sondern zwei Protagonisten, die sich unter ungewöhnlichen Bedingungen verbünden und schrittweise den Respekt des anderen erwerben. Auffallend ist dabei nicht nur die Kontrastierung der zwei Individuen, sondern auch aufeinanderprallende Wesenszüge wie Pflichtgefühl, Sehnsucht und Religiosität in Gestalt von Mary Bee. Ferner gelang die wohldosierte Mischung verschiedener Stile, denn „The Homesman“ vereint nicht nur die traditionell-inneramerikanische Lebensweise, sondern ist mithilfe von psychologisch fein gezeichneten Entwicklungen vor allem ein bewegendes Sozialdrama. Darin eingeschlossen sind sowohl spannungsreiche als auch subtile Facetten voller Emotionalität. Erfreulicherweise triefen die Dialoge nur selten vor uramerikanischen Emphasen, während die Ursachen der seelischen Krankheiten bewusst schonungslos, bisweilen aber nicht frei von Vorurteilen beleuchtet werden. Die Stärke der progressiven, von feiner Ironie durchzogenen Dramaturgie in Kontrast zum inhaltlichen Pessimismus besteht darin, dass man nicht weiß, ob man weinen oder lachen soll. Kritisch anzumerken sei aus meiner Sicht lediglich, dass, wenngleich es zu einer ungeahnten Wendung kommt, primär das abschließende Viertel vermeidbare Redundanzen enthält.
Obschon ich als Spartenlaie keine Vergleiche anstellen kann, überzeugte mich auch die optische Sphäre, denn zeittypische Kostüme, Frisuren und Kulissen bewirkten, die 1850er visuell reduziert in Szene zu setzen. Des Weiteren gefiel mir die auf die Mimik der Darsteller fokussierte, akkurate Kameraarbeit des Mexikaners Rodrigo Prieto, der bereits „Brokeback Mountain“ vortrefflich fotografierte. Bezüglich der musikalischen Untermalung fällt mir allerdings kein anderes Wort ein als das von Barney Stinson geprägte Prädikat „legendär“. Marc Beltramis Klänge sind stimmungsvoll, abwechslungsreich und spiegeln das Gesehene stets akustisch derart meisterhaft wider, dass man als Musikliebhaber niederknien möchte. Wäre das Werk auf ein größeres, öffentliches Interesse bei der Öffentlichkeit gestoßen, wäre eine Nominierung unausweichlich gewesen – statt Desplat zweifach zu nominieren.
Auch das starbesetzte Ensemble hält durchgängig, was es auf dem Papier versprochen hat. Besonders die für ihren zweiten Oscartriumph von mir wiederholt gescholtene Hilary Swank hat nämlich Famoses geleistet und spielt selbst den als raubeinigen Haudegen idealbesetzten Tommy Lee Jones beinahe an die Wand. Zwar habe ich bisher weder „Still Alice“ noch „Big Eyes“ zu Gesicht bekommen, doch dies ändert nichts daran, dass Swank aktuell meine persönliche Favoritin ist, da sie sich mit einer ungeahnt facettenreichen Darstellung tief in mein Herz gespielt hat. Sie glänzte gleichermaßen als unabhängige Frau voller zeituntypischem Durchsetzungsvermögen, vor allem jedoch in den empfindsamen Sequenzen, in denen ihre innere Zerrissenheit für den Zuschauer förmlich erlebbar wurde. Jones spielt den Gegenpart wie gewohnt solide, allerdings finde ich, dass er als Regisseur und Drehbuchautor die „bessere“ Leistung erbracht hat. In einem doch recht ungewöhnlichen Rollentypus schafft es auch Meryl Streep ein weiteres Mal mit Leichtigkeit, innerhalb von zehn Filmminuten ihre Brillanz zu offenbaren und auch Hailee Steinfeld, Miranda Otto und John Lithgow offerieren sehenswerte Akzente.
„The Homesman“ mag sicherlich nicht jedermanns Sache sein, doch zweifelsohne ist ein substantielles, bewusst eigenwilliges Porträt mit einem metaphorischen Ende entstanden, das gerade wegen der Konzentration auf die Protagonistin als legitime Erweiterung der üblichen Genreperspektive angesehen werden kann. Darauf fußend könnte man Jones’ Film als feministischen (Anti-)Western bezeichnen, der insbesondere durch seine exzellente Hauptdarstellerin sowie die erzählerische Konsequenz im Gedächtnis bleibt und zu Unrecht von nahezu allen Kritikervereinigungen ignoriert worden ist. Vielleicht vermag er sogar dazu beizutragen, dass ich der Sparte zukünftig mehr Chancen einräumen werde.