Bereits im Rahmen des 33. „Sundance Film Festivals“ in Salt Lake City erstmals einem ausgewählten Publikum präsentiert, gelang es der Literaturverfilmung „Call Me By Your Name“ im Gegensatz zu den meisten anderen, dort uraufgeführten Independent-Filmen für mehr als ein Dreivierteljahr in den Köpfen der Academy-Mitglieder zu verweilen und letzten Endes vier Nominierungen einzuheimsen. Das Coming-of-Age-Drama um zwei junge Männer inmitten eines Sommerurlaubs in Bella Italia schrieb insofern Oscargeschichte, als dass Drehbuchautor James Ivory die Trophäe als ältester, jemals ausgezeichneter Filmschaffender aller Zeiten entgegennehmen konnte, während der von Kritikern regelrecht vergötterte Hauptdarsteller zum jüngsten nominierten Herren in dieser Sparte seit annähernd 80 Jahren avancierte… Zweifelsohne fieberte nicht nur die LGBT-Community der Veröffentlichung entgegen und verzehrte sich in Folge einer ganzen Reihe an halbgaren Filmbeiträgen nach einem wahrhaftigen Porträt über zwei gleichgeschlechtlich Liebende. Sofern der Zuschauer voll und ganz bereit ist, sich auf die behutsame Erzählweise einzulassen, verströmt die nicht gerade massenkompatibel inszenierte Koproduktion von insgesamt vier Staaten ein hohes Maß an Lebensrelevanz für die aufregende, gleichermaßen schwierige Selbstfindungsphase, die gemeinhin als Coming-Out bezeichnet wird.
Frei von voyeuristischen Elementen, zeichnet sich die in den 1980ern angesiedelte Geschichte um das Kennen- und Liebenlernen des 17-jährigen Elio mit dem smarten, bildschönen Studenten Oliver durch geradezu schnörkellose Ausgeglichenheit und kennzeichnende Geduld für die Entwicklung der Charaktere aus. Insbesondere die eng an der Romanvorlage gehaltene Dialogisierung versprüht dabei sowohl Geist, Humor als auch Lebensweltlichkeit und erlaubt Identifikation mit den beiden Männern. Getragen von einer involvierenden Kameraarbeit und unterstützt durch einen vielseitigen Soundtrack, aus dem vor allem Stevens‘ feinfühlige Kompositionen „Visions Of Gideon“ und „Mystery Of Love“ herausragen, überrascht Guadagninos erst vierte Regiearbeit mit Aufrichtigkeit, Melancholie und psychologischer Dichte. Auf die oft vorgefundene Sensationslüsternheit wird nahezu gänzlich verzichtet und dem Publikum stattdessen vor Augen geführt, wie Leidenschaft den Menschen beeinflussen kann. Als problematisch erweist sich allerdings die immense, mindestens zwanzig Minuten zu ausgedehnte Laufzeit, dennoch hat man sich (anders als im Falle von „Blau Ist Eine Warme Farbe“) zumindest darum bemüht, dialogfreie Passagen der Stagnation, mithilfe malerischer Landschaftsaufnahmen von der Umgebung des Gardasees oder aber mit der Konzentration auf die mimische Gefühlswelt des Protagonisten zu kompensieren. Letztgenannte Errungenschaft ist vor allem der natürlichen, absolut glaubhaften Darstellung des New Yorkers Timothée Chalamet zu verdanken, der in unglaublichen jungen Jahren neben Gary Oldman und Tom Hanks die stärkste, männliche Darbietung des gesamten Jahres offeriert und von dem man noch viel erwarten darf. Nahezu auf Augenhöhe agiert der eher als Co-Lead agierende, Präsenz und Emotionen ausstrahlende Armie Hammer in einer Rolle, die regelrecht wie maßgeschneidert anmutet. Bedauerlicherweise scheint es an der direkten Konkurrenz von Hammer und dem aufgrund eines überaus nachwirkenden Monologs punktenden Michael Stuhlbarg gelegen zu haben, dass beide Herren an einer wohlverdienten Berücksichtigung von Seiten der Academy vorbeigeschrammt sind. Darüber hinaus erweist sich die Besetzung eher unbekannterer, folglich auch unverbrauchter Nebendarsteller als erfrischende Wahl.
„Call Me By Your Name“ ist unter allen Best-Picture-Kandidaten der vergangenen Saison mit Sicherheit der unaufgeregteste, jedoch auf der anderen Medaillenseite trotz gewisser Redundanzen auch der emotionalste. Speziell in dynamischen Zeiten wie den unsrigen stellt der Film einen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz homosexueller Liebe dar und gipfelt in einer Schlusssequenz, die kaum schöner anmuten könnte. All jene Kritiker, die dem Produktionsteam Tendenzen zur Förderung von Pädophilie vorwerfen, sollten vielleicht erst einmal nachlesen, was unter diesem Terminus überhaupt zu verstehen ist und in ihre Argumentation einbeziehen, dass viele Homosexuelle ihre ersten Erfahrungen tatsächlich nicht mit Gleichaltrigen erleben.