Das Historiendrama – ein ebenfalls unterschätztes, filmisches Genre! (Teil 4)

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Oftmals, so ist zumindest mein Erfahrungswert, wird dem Gattung der Historiendramen vorgehalten, dass sie mehrheitlich die Vorlieben einer femininen Klientel ansprechen. Zwar möchte ich diese These aus mehreren Gründen an dieser Stelle nicht pauschalisierend bestätigen, dennoch sollen heute drei filmische Beispiele im Vordergrund stehen, die möglicherweise deshalb als „Frauenfilme“ angesehen werden könnten, weil wir darin jeweils Protagonisten weiblichen Geschlechts vorfinden, die angesichts der Zeitumstände besonders charakterfest und selbstbewusst auftreten. In zweien dieser Werke nimmt die von mir hochgeschätzte Glenn Close ebendiese starke Rolle ein, auf das dritte hätte man allerdings nicht nur wegen der Hauptdarstellerin getrost verzichten können.
Im Übrigen werde ich aufgrund von Hinweisen sowie der eigenen Wahrnehmung bezüglich der Länge meiner Ausführungen in der nunmehr vierten Episode versuchen, mich kürzer zu fassen, auch wenn es mir gerade angesichts von Meisterstücken oder aber einem kaum unterbietbaren Filmbeispiel im Speziellen noch so schwer fallen sollte. 🙂

Gefährliche Liebschaften (OT: Dangerous Liaisons)

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Eine mittlerweile Kultstatus genießende Serienfigur sprach einmal davon, dass Sex, Macht und Politik sich stets in wechselnder Abhängigkeit zueinander verhalten. Mit dieser These hätte man auch die dramaturgische Grundidee des vor 25 Jahren entstandenen Klassikers „Gefährliche Liebschaften“ vortrefflich umreißen können. Dieser wiederum basiert auf jenem gleichnamigen Briefroman, welcher als einzige und noch dazu kontrovers diskutierte Veröffentlichung von Pierre de Laclos in die Literaturgeschichte eingehen sollte. Nicht weniger als neun (!) Verfilmungen sind bis zum heutigen Tag aus dieser Korrespondenzsammlung hervorgegangen. Die Adaption des „Philomena“-Machers Stephen Frears, muss, auch wenn ich als Teenager ein Fan von der neumodischsten Umsetzung „Eiskalte Engel“ war, als die mit großem Abstand gelungenste betrachtet werden.

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Obschon die Story nur teilweise auf wahre Begebenheiten fußt, könnte die Handlung um die wollüstigen, folgenreichen Intrigen zwischen der Marquise Isabelle de Merteuil und dem Vicomte Sébastien de Valmont sich in dieser Form ereignet haben und auch jeder der psychologisch-glänzend gezeichneten Charaktere des kammerspielartig arrangierten Dramas spricht für die Anlehnung an distinguierten Zeitgenossen. Eine erotische Spannung, die sich anders als in „Quills“ nicht aus obsessiver Lust begründet, sondern vor allem aus Motiven wie Kontrollausübung, Hingabe und Verweigerung, vor allem aber aus dem Drang nach Selbstverwirklichung resultiert, entstand bei Weitem nicht nur, weil die Dekolletés tiefe Einblicke erlaubten. Wir werden Zeuge von Ränkespielen, die zwischen Spannung und heiteren Pausensetzungen pendeln, nichtsdestotrotz nie den sozialen Kontext und die Gegenüberstellung von Aristokratie und Bourgeoisie aus den Augen verlieren. Schließlich erscheinen die losgelöst von Konventionen agierenden Hauptdarsteller auch als metaphorische Verkörperung eines erstarkten, selbstsicheren Adels des 18. Säkulums im direkten Gegensatz zu zwei schwachen Bourbonen, die den Thron des Sonnenkönigs erbten. Überdies ist das oscarprämierte Drehbuch gespickt mit originalgetreuen, smarten, spitzzüngigen Wortwechseln, was auch in der deutschen Synchronfassung Ausdruck fand. Stets wird auf das unabwendbare, epische Schlussbild hingearbeitet, worin die Dramatik primär begründet ist. Ferner wirkt das Szenario aufgrund fein nuancierter Gegenwartsbezüge trotz seiner historischen Sphäre nicht wie eine entfernt-antiquierte Traumwelt.

DANGEROUS LIAISONS, Keanu Reeves, Uma Thurman, 1988

Wie die Kritiker damals bemerkt haben, hat Frears hier „vollendetes Rokoko, Berechnung und Empfindung“ gleichermaßen effektvoll wie intensiv miteinander verknüpft und sich dabei der Ära des frühneuzeitlichen, vorrevolutionären Frankreichs unter dem Ancien Régime auch auf optischer Ebene fehlerfrei angenommen. Gedreht wurde das Ganze auf einem pittoresken Château in Yvelines bei Paris, das abwechselnd in Dunkelheit und Farbenpracht getaucht worden ist. Die pompösen Kulissen von Stuart Craig, der später auch Chef-Designer für alle Harry-Potter-Teile war, sind wirklich erhaben, genau wie die bestechenden, zeittypischen Kostüme und Frisuren der Lehnsherren. Neben herrlichen Arrangements von George Fenton wurden auch zeitgenössische Kompositionen von Händel und Vivaldi als Untermalung verwendet, die einerseits fließend ineinander übergehen, vortrefflich zum Geschehen passen und zusätzlich die Möglichkeit offerieren, in die Charakteristika der Epoche einzutauchen.

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Neben diesen Vorzügen erzielen einerseits die durch einen effektvoll gesetzten Kamerafokus eingefangenen Blicke der Akteure eine außergewöhnliche Zuschauerwirkung, auf der anderen Hand ist diese auch der bis in die Nebenrollen hervorragende Besetzung zu verdanken. Eine derartig raffiniert, elegant-bösartige Darstellung wie ebenjene von Glenn Close muss man als Schauspieler in tiefster Seele fühlen, um eine glaubwürdige Stimmung zu erzeugen – und das tut sie in jeder einzelnen Sequenz! Insbesondere Szenen der herrischen Protagonistin im letzten Filmdrittel muss man einfach gesehen haben. Sie gibt hier absolut überzeugend ein durch und durch intrigantes Miststück, das erst zum Schluss einen Einblick in ihr Seelenleben erlaubt. Insbesondere wegen dieser Rolle bedauere ich es über alle Maßen, dass Close sich nach sechs Oscarnennungen – in den 80ern wurde ihr die Ehre fünf Mal innerhalb von sieben Jahren zuteil – noch immer „nur“ als „oscarnominiert“ bezeichnen darf. Auch wenn ich Fosters Spiel in „Angeklagt“ ebenfalls als großartig erachte, hätte ich mich in dem betreffenden Jahr dennoch eindeutig für Close entschieden, denn nicht umsonst gilt ihre Marquise de Merteuil als einer der besten, weiblichen Filmbösewichte. Sie zeigte eine Art der Schauspielkunst wie wir sie heute leider immer weniger erleben dürfen! Anders als viele Kritiker kann ich nicht behaupten, Malkovich sei fehlbesetzt. Er gibt den Vicomte aalglatt und in seiner humanen Entwicklung absolut authentisch, harmoniert darüber hinaus mit allen drei, um ihn buhlenden Damen. Insbesondere auch Michelle Pfeiffer liefert in dem Kostümfilm ebenfalls eine Leistung der Extraklasse ab, denn sie hat es geschafft, die anfängliche Zurückhaltung sowie ihre aufkeimenden Gefühlsbewegungen zwischen Leidenschaft und grenzenloser Enttäuschung der verheirateten Dame sicht- und nachfühlbar zu machen, während es Uma Thurman bereits in ihrem ersten, großen Leinwandauftritt als naive Cécile de Volanges versteht zu überzeugen. Im Übrigen profitiert auch Keanu Reeves von dem Ensemble, denn seine Performance ist die einzig Gelungene seiner langen Karriere.

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Schlussendlich zählt „Gefährliche Liebschaften“ aus meiner Sicht zu den stimmigsten, makellosesten Literaturverfilmungen der Filmgeschichte, weil sie einen jedes Mal aufs Neue packt und das Maximum aus seiner literarischen Basis herausgeholt und den kulturellen wie psychologischen Zeitgeist durchdrungen hat. Man verlor sich nicht wie viele andere Historienfilme in seiner üppigen Aufmachung, und stellt demgegenüber eine intensive Charakterstudie dar. Ausgezeichnet wurde er bei sieben Nominierungen mit drei Academy Awards, doch auch Preise für Close sowie Pfeiffer, den Score, das Make-Up und auch Frears’ elegante, bis heute unerreichte Regieführung wären völlig gerechtfertigt gewesen! Einfach wunderbar!

UK / USA 1988 - 119 Minuten Regie: Stephen Frears Genre: Historienfilm / Erotikdrama Darsteller: Glenn Close, John Malkovich, Michelle Pfeiffer, Uma Thurman, Swoosie Kurtz, Mildred Natwick, Keanu Reeves, Peter Capaldi
UK / USA 1988 – 119 Minuten
Regie: Stephen Frears
Genre: Historienfilm / Erotikdrama
Darsteller: Glenn Close, John Malkovich, Michelle Pfeiffer, Uma Thurman, Swoosie Kurtz, Mildred Natwick, Keanu Reeves, Peter Capaldi

Paradise Road – Weg Aus Der Hölle (OT: Paradise Road)

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Am Ende des dritten Weltkriegsjahres wird der unter britischer Kronkolonialherrschaft stehende Handelstützpunkt Singapur überraschend von den Japanern angegriffen, so dass die vor Ort befindlichen Frauen und Kinder westeuropäischer sowie amerikanischer Herkunft, schnellstmöglich evakuiert werden müssen. Die Zeit in Luxus und Unbekümmertheit endet spätestens dann abrupt, als das zivile Schiff von der expandierenden, kaiserlichen Armee beschossen und versenkt wird. Einem Teil der Frauen gelingt es, sich auf das Festland Sumatras zu retten, wo alle von den Feinden in einem Gefangenenlager interniert werden. Trotz eines schier endlosen Verharrens unter unmenschlichsten Bedingungen verlieren sie nicht den Mut und die Hoffnung auf Frieden, gründen nach einiger Zeit sogar ein Vokalorchester, in dem alle Instrumente einer klassischen Partitur von Stimmen ersetzt werden. Erst ganze vier Monate nach Beendigung der Kampfhandlungen in Europa wurde die inzwischen stark dezimierte, mannigfaltige Zwangsgemeinschaft nach der bedingungslose Kapitulation Japans im September 1945 befreit.

With Frances McDormand as prisoners of war in Paradise Road.

Die Rahmenhandlung des Werkes von Bruce Beresford, der auch für den preisgekrönten, wenn auch unterschiedlich rezipierten Film „Miss Daisy Und Ihr Chauffeur“ verantwortlich war, basiert auf Tatsachen, und zwar neben anderen zeitgenössischen Quellen primär auf den Memoiren von Betty Jeffrey, welche ihrerseits jahrelang in jenem Lager im heutigen Indonesien verweilen musste. So ist beispielsweise die Figur Margaret Drummond vollständig einer Mitgefangenen nachempfunden. Beresford strebt konsequent von der korrekt geschilderten, geschichtlichen Einführung hin zum einem fast noch interessanteren, psychologischen Theaterwerk, das für die „Nachlebenden“ stets verstehbar bleibt. Erreicht durch frappante Dialoge kommt die anfängliche Arroganz der Amerikaner gegenüber dem aus ihrer Sicht „kleinwüchsigen, militärisch unterlegenen“ Inselvolk gut zur Geltung, gleichwohl in unbeschönigender Weise deren nicht minder grausames Vorgehen im Weltkrieg. Die wohl am schwersten ertragbarste Szene ist (leider) historisch exakt, denn es entsprach dem Vorgehen der asiatischen Achsenmacht, ihre Arrestanten bei lebendigem Leib anzuzünden. Demgegenüber wurde allerdings so gut wie nie pure Schwarzweiß-Malerei betrieben, denn menschliche Züge sind in jedem der Agierenden erkennbar, so auch in den Japanern. Zudem wurde besonders tief in die Psyche der Protagonistinnen eingedrungen, denn ihre Ängste und innersten Wünsche werden genau so verdeutlicht wie Klassenunterschiede, welche selbst in dieser Ausnahmesituation erst nach und nach überwunden werden konnten. Das schrittweise Zusammenwachsen wird besonders durch die wunderbar platzierten, berührenden Chorauftritte, in denen Ravels „Boléro“ und das Stück „Aus Der Neuen Welt“ von Dvořák vorgetragen werden, auf äußerst emotionale Weise symbolisiert. Allgemein ist es die reduzierte Filmmusik, die den Film sehr neben den Stimmen der Frauen besonders stark trägt. Hinzu kommt der wunderbare Song „Mad About The Boy“ in der Eröffnungssequenz.

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Die aus meiner Sicht einzigen, feststellbaren Schwächen des Dramas hängen mit der bisweilen vielleicht zu dünnen Dramaturgie zusammen, sodass der Handlungsverlauf trotz des Wechsels von ruhigen und dramatischen Momenten nur selten überraschende Wendungen für die Zuschauerschaft bereithält sowie mit einer recht holprigen Szene rund um die Havarie des Schiffes im ersten Viertel des Zweistünders. Dennoch wurde hier bewusst mit inszenatorischen wie optischen Kontrastierungen gearbeitet, schließlich beginnt „Paradise Road“ in einem üppigen Luxushotel, um dann rasch in den Morast Sumatras zu wechseln. Die Cinématographen und Produktionsdesigner schufen ein authentisches Set und insbesondere die Maskenbildner machten ihrer oftmals zu wenig gewürdigten Kunst erneut alle Ehre.

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Auch in Bezug auf die darstellerische Sphäre wurde der von Frauen dominierte Film unterschätzt. Close macht ihre Sache ein weiteres Mal beispielgebend. Zwar ist ihre Rolle als Adrienne nicht derartig intensiven Charakters wie ihre Auftritte in „Eine Verhängnisvolle Affäre“, „Albert Nobbs“ oder dem eben rezensierten Meisterwerk, dennoch sieht man ihr erneut gern zu, fühlt fortwährend mit ihrer selbstbewussten Figur mit. Zudem zeigte Pauline Collins, leider viel zu sporadisch im Filmgeschäft aktiv, neben ihr die beeindruckendste schauspielerische Leistung, gerade weil sie mit Einfühlungsvermögen und expressiver Zurückhaltung punktet. Cate Blanchett gibt hier äußerst bemüht ihr Spielfilmdebüt, und schon hierin wird ihre Ausdruckskraft und Bandbreite in Ansätzen erkennbar. Überraschenderweise setzte auch (die von mir eigentlich nicht sonderlich geliebte) Frances McDormand als deutsch-jüdische Ärztin einen nachhaltigen Akzent, während auch Julianna Margulies und Johanna ter Steege als trinkfeste Nonne das sehenswerte Ensemble bereicherten.

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Unglücklicherweise war „Paradise Road“ aus kommerzieller Sicht ein absoluter Flop, der lediglich ein Fünftel seiner Produktionskosten wieder einspielen konnte und im Erscheinungsjahr von „Titanic“ komplett unterging. Warum dies der Fall war, entzieht sich bis heute meinem Verständnis, denn das Historiendrama bietet einfach alles, was einen gelungenen Genrevertreter ausmacht: Historische Authentizität, Herz und Humanität, hervorragende Aktricen und eine Intention, die der Gesellschaft zu denken geben sollte. Entstanden ist ein schicksalhaftes Porträt über die Kraft von Musik und den unbändigen Lebenswillen, das mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte und vielleicht zu wenig gesehen wurde. „Paradise Road“ stellt aus dieser Perspektive betrachtet aber auch ein gelungenes Andenken an die Begebenheiten innerhalb eines relativ rudimentär beleuchteten Kriegsschauplatzes sowie einen unaufdringlichen Appell für Menschlichkeit dar, die in Zeiten größter Not über die Barbarei zu triumphieren imstande ist.

AUS / USA 1997 - 123 Minuten  Regie: Bruce Beresford Genre: Historienfilm / Kriegsdrama Darsteller: Glenn Close, Pauline Collins, Frances McDormand, Cate Blanchett, Jennifer Ehle, Julianna Margulies, Wendy Hughes, Johanna ter Steege, Clyde Kusatsu, Stan Egi, Elizabeth Spriggs, Sab Shimono
AUS / USA 1997 – 123 Minuten
Regie: Bruce Beresford
Genre: Historienfilm / Kriegsdrama
Darsteller: Glenn Close, Pauline Collins, Frances McDormand, Cate Blanchett, Jennifer Ehle, Julianna Margulies, Wendy Hughes, Johanna ter Steege, Clyde Kusatsu, Stan Egi, Elizabeth Spriggs, Sab Shimono

Die Wanderhure

Es ist nun nicht so, dass ich die aktuell in einer Phase der Hochkonjunktur befindlichen „Historienromane“ grundsätzlich verabscheue. Zugegeben, die Masse dieser ist oft eindimensional und schlecht recherchiert, dennoch habe ich als Jugendlicher verschiedene Genrevertreter mit gemäßigter Begeisterung gelesen. Nicht umsonst ist „Die Päpstin“ bis heute eins meiner Lieblingsbücher, das hervorragend geschrieben ist und die mediävale Epoche exakt nachzeichnet, wenngleich der porträtierte weibliche Pontifex bekanntlich primär auf Legenden beruht. Das Werk der Amerikanerin Iny Lorentz wurde mir, genau wie die darauf basierende Verfilmung, wärmstens empfohlen. Der annehmbar konzipierte Roman hält sich bereits relativ temporär an historische Fakten des Spätmittelalters, doch die kürzlich gesehene Verfilmung, welche erstmals im Zuge des sogenannten „Eventkinos“ eines namhaften Privatsenders lief, setzte aber noch einen – oder besser gesagt zehn drauf – und versagt auf allen nur vorstellbaren Ebenen, nicht nur deswegen, weil man nach gefestigter Historie suchen muss wie im Frühjahr nach Ostereiern…

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Konstanz, 1414: Die schöne Kaufmannstochter Marie soll gegen ihren Willen mit Grafensohn Ruppertus verheiratet werden. Als sie sich ihm verweigert, lässt der Geschmähte sie vergewaltigen und als Hure strafen. Marie, von einer Gruppe umherziehender Prostituierter aufgenommen, sinnt nun nach Rache… Die Handlung allein, in vielen Belangen stark von der ebenfalls nicht idealen Buchvorlage abweichend, ist ein einziges, haarsträubendes, abstruses Gebräu aus geschichtlicher Lapidarität und erzwungenem Feminismus, aufgebauschter Politik und betont provokantem Sex sowie Klamauk und Tragödie – im wahrsten Sinne des letztgenannten Wortes. In erster Linie ist es die erschreckend debile Dialogführung, die all das widerspiegelt. Die Mehrheit des Gesagten kann schlicht und ergreifend nicht ernst genommen werden, oft bewegte man sich an den Grenzen des physisch Ertragbaren entlang und setzte wiederholt voyeuristische Peinlichkeiten zur Verschleierung dessen ein. Selbst in 08/15-Serien im Stil von „Sturm der Liebe“ trifft man auf substantiellere Wortwechsel. Allein der Satz: „Ich bringe alle auf den Scheiterhaufen, die mir das angetan haben.“ zeigt die dilettantisch-naive Vorstellung vom sozialen Leben des 15. Jahrhunderts.

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Filmschaffende verfolgen bei ihrer Arbeit für gewöhnlich einen Sinn. Dieser allerdings fehlt aus meiner Sicht, denn man muss sich schon fragen, was einem die Fernsehproduktion eigentlich sagen will: Stellte Prostitution etwa ein legitimes, realistisches Racheinstrument mittelalterlicher Frauen dar, um sich über das starke Geschlecht zu erheben? Soll genau dieser, um es mit Katrin Sass zu sagen, „monströse Unfug“ die Quintessenz dieses Dramas darstellen? Wenn ja, kann man „Die Wanderhure“ nur als flatterhaft, inkompetent und dumm charakterisieren. Historische Akkuratesse zu erwarten, muss als nebensächliche Marotte angesehen werden. So ereignete sich das Konzil von Konstanz in dieser Ära deutscher Geschichte, auf welchem u.a. Jan Hus als Häretiker verurteilt wurde, was hier natürlich absolut nebensächlich ist. Viel brisanter erscheint es, moderne Einflüsse wie die Überwindung der männlich-dominierten Gesellschaft krampfhaft in die vormoderne Zeit hineinzupressen, während Gesinnungen des ausgehenden Mittelalters in Gänze außer Acht gelassen wurden. Beispielsweise wurde Prostitution damals zwar per Gesetz toleriert, dennoch bildeten Prostituierte die unterste soziale Schicht, sahen deswegen verhältnismäßig ungepflegt aus. Regisseur Thun zeichnete die Huren aufgrund ihres Kleidungsstils und der Wortgewandtheit demgegenüber so, als entsprächen sie heutigen Escortladys. Die unzähligen Vergewaltigungen, welche Marie erdulden muss, ließen mich als Zuschauer nahezu komplett kalt, was kaum fataler anmuten könnte, wohl aber damit zusammenhängt, dass man an dem Schicksal von keinem der Protagonisten auch nur entfernt Anteil nehmen möchte. Und nein, das trifft nicht nur auf die allesamt bitterbösen, proletenhaften Mannsbilder zu! In der Tat überzeugt nicht mal die Filmoptik, denn in der Tat offerieren die in Mode gekommenen Mittelalter-Festivals authentischere Sets als „Die Wanderhure“. Die Kulissen musste man während des Drehs womöglich mit „Sie“ ansprechen, damit sie nicht in sich zusammenkrachten und auch die Kostümierungen sind in ihrer Farbe und Form alles, aber sicher nicht realistisch. Hinzu gesellen sich eine wackelige Kameraarbeit, mehrfache Schnittfehler sowie eine aus sämtlichen Hollywood’schen Scores zusammengeklaute Filmmusik eines Mannes, der normalerweise für den „Tatort“ komponiert.

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Den Tiefpunkt des Ganzen bildet zweifelsohne das Ensemble aus Laiendarstellern, welches wie ein schlechtes Schultheater bei der allerersten Leseprobe agiert. Alexandra Neldel spielte von vorn bis hinten hölzern, zieht laufend unglaubwürdige, überzogene Grimassen und ist obendrein rund zwei Dekaden zu alt für die Rolle der Marie. (Das seinerzeitige Heiratsalter lag bei sechzehn Jahren, nicht bei fast vierzig.) Ihre „Leistung“ wurde für den Deutschen Fernsehpreis nominiert, was wiederum tief blicken lässt… Ansonsten ist die betreffende Produktion wohl ein Musterbeispiel dafür, warum das deutsche Schauspiel häufig belächelt oder gar ignoriert wird. Bert Tischendorf, Alexander Beyer und Nadja Becker rattern ihre sinnlosen Texte ebenfalls absolut emotionslos und facettenarm herunter. Die einzige halbwegs ansehnliche Leistung liefert Götz Otto als – man höre und staune – tatsächlich existenter, wenngleich ebenfalls inkorrekt geschilderter Regent des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Unser Land hat überzeugende Darsteller! Von diesen wurde hierin unglücklicherweise aber kein Einziger engagiert.

Das Mittelalter mag sicherlich in mancherlei Hinsicht grausam gewesen sein, auf keinen Fall aber war die eintausendjährige Epoche so grausam wie „Die Wanderhure“. Es dürfte neben der Tatsache, dass die breite Masse sich mit anspruchsloser Unterhaltung zufrieden gibt, vor allem dem Substantiv „Hure“ im Titel zu verdanken sein, dass derartige Einschaltquoten für den ersten Teil und die mit Sicherheit genau so schrecklich-unnötigen Fortsetzungen erreicht werden konnten. Um mir diese anzuschauen, müsste man mir allerdings Geld zahlen, da dieses Machwerk nicht einmal zur Belustigung beitragen vermochte. Was lernen wir daraus? Genau! Man sollte sich auf sein filmisches Gespür verlassen und nicht von der Populärkultur oder Quoten „bequatschen“ lassen. Wenn es tatsächlich ein Genre des „Frauenfilms“ gibt, und dieser unplausible, fehlerhafte, langatmige und luftleere Schund einem gelungenen Beispiel des 21. Jahrhunderts entsprechen sollte, bin ich umso froher, keine zu sein. Tut euch das bitte nicht an!

D / AT 2010 - 121 Minuten Regie: Hansjörg Thun Genre: "Historienfilm" / Erotikdrama Darsteller: Alexandra Neldel, Alexander Beyer, Thomas Morris, Gregor Seberg, Nadja Becker, Götz Otto, Bert Tischendorf, Michael Brandner, Lili Gesler, Julian Weigend
D / AT 2010 – 121 Minuten
Regie: Hansjörg Thun
Genre: „Historienfilm“ / Erotikdrama
Darsteller: Alexandra Neldel, Alexander Beyer, Thomas Morris, Gregor Seberg, Nadja Becker, Götz Otto, Bert Tischendorf, Michael Brandner, Lili Gesler, Julian Weigend
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