Leid und Herrlichkeit (OT: Dolor y Gloria)

© El Deseo

„Wenn du weder schreibst noch Filme drehst, was machst du dann?“ – „Leben, nehme ich an.“

Mit diesem rhetorisch-fragenden Dialog wird nicht nur der narrative Ausgangspunkt für „Leid und Herrlichkeit“ gelegt, sondern auch dessen Quintessenz mit wenigen Worten eingefangen. In Pedro Almodóvars inzwischen 22. Filmproduktion blickt der alternde, von einem Sammelsurium an Gebrechen geplagte Regisseur Salvador auf sein an Höhepunkten und Tiefschlägen gleichermaßen reiches Leben zurück. Die Uraufführung des international als „Pain & Glory“ vermarkteten Dramas im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes entfachte nicht nur deswegen ein hohes Maß an Neugier, weil Antonio Banderas für seine Hauptrolle den begehrten Darstellerpreis entgegennehmen durfte. Bereits nach kurzer Laufzeit kristallisierte sich heraus, dass es sich dabei keinesfalls um eine Sympathie-Bekundung handelte, sondern vielmehr um die gebührende Anerkennung für eine starke Darbietung im Herzen eines reifen Werks, das mit Fug und Recht als kleines Gesamtkunstwerk bezeichnet werden kann.

© El Deseo

Kurz vor seinem 70. Geburtstag lässt Almodovar das Publikum partiell an seinem persönlichen Werdegang teilhaben, indem die Fiktionalität nach eigenem Bekunden durch mehrere autobiographische Elemente durchbrochen wird. Welche dies sind, bleibt erfreulicherweise allein der Interpretation des Zuschauers überlassen. Typisch für das Oeuvre des Iberers bestimmt erneut eine surrealistische Inszenierung sowie eine kontrastreiche, extreme Farbgestaltung voll von tiefgreifendem Symbolismus nahezu jede einzelne Sequenz. Im Unterschied zu den filmischen Vorgängern tritt die Bildästhetik diesmal jedoch zugunsten eines energetischen Fokus‘ auf die Gedankenwelt der Hauptcharaktere eindeutig in den Hintergrund. So wirkt das geduldige Skript trotz (oder gerade wegen) zahlreicher Zeitsprünge in die prägende Kindheitsphase des Protagonisten psychologisch überaus dicht und enthält mehrere Aussagen, welchen die Qualität von Weisheiten innewohnt. Nur selten enthält das Gebotene verzeihbare Redundanzen, die durch die ausgewogene Einlösung des versprochenen Titels ausgeglichen werden. Der allzu häufig scheiternde Spagat zwischen mehreren Genres gelingt bravourös, weswegen Passagen wehmütiger Melancholie mit einer Portion Humor und erotischen, nie jedoch voyeuristischen Momenten als elegante Einheit präsentiert werden. Des Weiteren ergibt sich der involvierende Gesamteindruck aus den mitreißenden Kompositionen von Alberto Iglesias, der klassische Geigen-und-Klavier-Arrangements mit beinahe minimalistisch anmutenden Arrangements verknüpft und diese exakt in den entscheidenden Momenten anschwellen lässt. In der bereits sechsten Zusammenarbeit des Regisseurs und des Hauptdarstellers offeriert Letzterer seine absolute Karriere-Bestleitung in einer zutiefst labilen, authentisch umgesetzten Rolle. Der mithilfe grandioser Mimik agierende Banderas bildet den uneingeschränkten Dreh- und Angelpunkt und tritt obendrein den Beweis an, dass „leise“ Verkörperungen häufig den nachwirkendsten Eindruck zu hinterlassen vermögen. Neben dem Newcomer César Vicente sowie dem charmanten Leonardo Sbaraglia offeriert auch Penélope Cruz nach längerer Durstrecke endlich einmal wieder eine sehenswerte Leistung.

© El Deseo

Bei insgesamt 19 Nominierungen gewann Spanien bisher vier Mal den Oscar in der Kategorie „Bester Fremdsprachiger Film“, die ab dem kommenden Jahr den offiziellen Titel „Bester Internationaler Film“ tragen wird. In Unkenntnis der potentiellen Konkurrenz ist „Dolor y Gloria“ allerdings ein fünfter Triumph durchaus zuzutrauen, denn er stellt nicht zuletzt die berührende Rückschau eines Coming-Outs auf mehreren Ebenen dar. „Leid und Herrlichkeit“ bildet in Summe ein erstes, schwer wegdiskutierbares Highlight der noch jungen Filmsaison 2019/2020, zelebriert die Filmkunst und lässt den Zuschauer sowohl beeindruckt als auch nachdenklich zurück, sofern dieser es zulässt. Una película especial!

ES 2019 – 114 Minuten
Regie: Pedro Almodóvar
Genre: Drama
Darsteller: Antonio Banderas, Asier Etxeandia, Nora Navas, Leonardo Sbaraglia, Penélope Cruz, Julieta Serrano, Raúl Arévalo, Cecilia Roth, Rosalía, César Vicente, Pedro Casablanc, Agustín Almodóvar
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