Pieces Of A Woman

© Netflix

Nachdem in Gestalt von „Mank“ und „The Trial Of The Chicago 7“ bereits zwei heiß erwartete Neuveröffentlichungen inmitten eines nahezu kinolosen Jahres hinter den (subjektiven) Hoffnungen zurückgeblieben sind, befindet sich seit drei Tagen nun endlich ein Werk im Spielplan von Netflix, das Erwartungen nicht nur vollends erfüllte, sondern sie auf vielen Ebenen sogar haushoch übertraf. „Pieces Of A Woman“ stellt die erst zweite englischsprachige Regieführung des Ungarn Kornél Mundruczó dar und wagt den couragierten Versuch, etwas Unbegreifliches nachfühlbar werden zu lassen, denn das Drama gewährt einen tiefschürfenden Blick auf eine tragisch verlaufende Hausgeburt und die immensen psychischen und juristischen Konsequenzen. Uraufgeführt im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig, die letzten September in abgespeckter Form, stattfanden, ist nicht nur die Leistung der mit dem Coppa Volpi prämierten Hauptdarstellerin Vanessa Kirby außergewöhnlich, sondern der unbeschönigende Umgang mit einem niederschmetternden Schicksalsschlag, der unmittelbar an eine vielzitierte Zeile des 19. Jahrhunderts anknüpft: „Kinder zu verlieren, ist schlimmer als selbst zu sterben.“

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Mundruczó entschied sich bewusst, die nach wenigen Minuten beginnende Entbindung in einer einzigen Einstellung zu illustrieren und kreierte ein fast 20-minütiges Wechselbad der Stimmungen voll von Realismus, Intensität und Intimität, das absolut unter die Haut geht und in dieser Form bisher einzigartig sein dürfte. Da auch infolgedessen vollständig auf Zeitsprünge verzichtet wird, avanciert das Gebotene zu einer Chronik mit Echtzeitcharakter, die einen wiederholt tief in die Magengrube trifft und in der Blicke und Gesten wiederholt Bände sprechen. Während Martha und Sean eigene Wege zur Traumabewältigung gehen, beschäftigen sich die Macher auch meisterhaft mit der Frage nach Gerechtigkeit und deren Grenzen. Da die Hebamme auf Druck von Dritten wegen Fahrlässigkeit angeklagt wird, steht zur Disposition, ob die Justiz überhaupt in der Lage ist, in irgendeiner Form zur Linderung der Qualen beizutragen, doch das Drama überlässt die Entscheidung darüber in unaufdringlicher Weise allein dem Zuschauer. Darüber hinaus ist es lange her, dass man einen Film zu Gesicht bekam, in dem nahezu jedes einzelne Gestaltungsmittel mit dem jeweils anderen perfekt ineinandergreift und vor allem die virtuose, stets effektvoll zwischen beängstigender Nähe und sicherer Distanz pendelnde Kameraarbeit sowie die sensiblen Klänge von Howard Shore, die reduziert und in den entscheidenden Momenten eingesetzt werden, bleiben ähnlich lange im Gedächtnis wie die bis in die Nebenrollen vortrefflich besetzte Darstellerriege. Die fesselnde und herausfordernde Darbietung von Vanessa Kirby, welche mir im Vorfeld komplett unbekannt war, kann als nichts anderes als eine Sensation bezeichnet werden, der das Wort „Schauspiel“ beinahe nicht mehr gerecht wird. 2020 scheint überdies in darstellerischer Hinsicht als Jahr der fantastischen Schauspiel-Veteraninnen in Erinnerung zu bleiben, denn neben der starken Leistung der 86-jährigen Sophia Loren in „The Life Ahead“, offeriert nun auch Ellen Burstyn, Jahrgang 1932 (!), in nur wenigen Szenen herausragende Arbeit, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in ihrer siebenten Oscarnominierung münden dürfte – als bis dato älteste Aktrice der Geschichte. Auch Shia LaBeouf, der einst böse Transformers jagte, setzt (ungeachtet der nicht als optimal einzuschätzenden, deutschen Synchronisation) zum ersten Mal überhaupt ein schauspielerisches Ausrufezeichen.

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„Pieces Of A Woman“ endet mit einem vielfältig deutbaren Gleichnis, das als Hoffnungsschimmer fungiert, und lässt den Betrachter dennoch sowohl zutiefst betroffen als auch nachdenklich zurück. Ob die Zeit – wie der Volksmund es sagt – tatsächlich alle Wunden heilt, steht nach der Sichtung des Zweistünders zweifelsohne zur Disposition, doch es erfüllt einen insbesondere inmitten des Shutdowns mit unbändiger Dankbarkeit, auf Streamingplattformen gelegentlich auf brillante Produktionen mit enormer Relevanz zu stoßen, die sich an ein gereiftes, geduldiges Publikum mit einem Sinn für die Omnipräsenz des Schmerzes richten.

USA / CD 2020 – 128 Minuten
Regie: Kornél Mundruczó
Genre: Drama
Darsteller: Vanessa Kirby, Shia LaBeouf, Molly Parker, Sarah Snook, Ellen Burstyn, Benny Safdie, Iliza Shlesinger, Domenic Di Rosa, Vanessa Smythe
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