Seitenwechsel (OT: Passing)

Seitenwechsel mit Tessa Thompson und Ruth Negga
©Netflix

Als Kinder waren Irene Redfield (Tessa Thompson) und Clare Kendry (Ruth Negga) Freundinnen. Umso größer ist die Überraschung, als sie sich als erwachsene Frauen wieder begegnen. Noch neben all der Freude, auch die Irritation: Beide haben afroamerikanische Wurzeln, sind jedoch von einer helleren Haut als ihre Vorfahren. Während Irene sich jedoch als schwarze Frau versteht und den dunkelhäutigen Doktor Brian Redfield (André Holland) geheiratet hat, gibt sich Clare als weiße Frau aus. Mehr noch, sie ist mit dem Weißen John Bellew (Alexander Skarsgård) verheiratet, der zu Irenes Entsetzen bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Abscheu vor Schwarzen demonstriert und sie damit in eine Identitätskrise stürzt…

Wann immer Schauspieler*innen die Seiten wechseln und sich im Regiefach versuchen, darf man neugierig sein: Wie wird ihr Debüt wohl ausfallen? Welches Genre wird es sein? Werden sie sich selbst eine Rollen geben und welche wird es sein? So auch bei Rebecca Hall, die zuletzt eher in Independent-Filmen glänzte, aber auch in einigen Blockbustern mitwirkte. Anstatt sich an ihre größeren Erfolgen zu orientieren, nahm sie sich bei ihrem Netflix-Drama Seitenwechsel jedoch ausgerechnet ein Buch der Autorin Nella Larsen zur Vorlage, die Ende der 1920er zwei Romane geschrieben hatte, in denen sich sich darin mit Fragen der ethnischen Identität auseinandersetzte.

Seitenwechsel mit Tessa Thompson und André Holland
©Netflix

Als wäre das sogenannte Whitewashing, wenn Weiße in Filmen die Rollen von People of Color übernehmen, nicht schon fragwürdig genug, hat nun mit Rebecca Hall eine weiße Frau die Geschichte verfilmt. Kann es da gut gehen, wenn eine Nicht-Betroffene sich eines derart sensiblen Themas annimmt? Kann eine Britin etwas darüber sagen, was es heißt, in einem rassistischen Amerika der 1920er zwischen zwei Hautfarben zu stehen? Und das auch noch mit einem Debütfilm? Soviel sei verraten: Seitenwechsel ist ein kunstvoll umgesetztes Drama, das einige interessante Themen anspricht, die auch Jahrzehnte nach Larsens Vorlage relevant sind.

Die Geschichte klingt dabei zunächst für uns Europäer einmal absurd, zumindest für ein hiesiges Publikum: Eine Schwarze, die sich als Weiße ausgibt, das kann doch eigentlich nicht gehen, oder doch? Wenn wir als Zuschauer dann auch noch ihren rassistischen Mann kennenlerent, der mit großer Leidenschaft über Schwarze herzieht, dann scheint endgültig das Ende der Glaubwürdigkeit erreicht. Dabei ist die Situation oft nicht so eindeutig. Seitenwechsel führt gleich in mehrfacher Hinsicht vor Augen, dass es eben doch nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Der Film greift einerseits die Problematik auf, die gerade in den USA Menschen gemischter Herkunft haben können – sie sind zu dunkel, um weiß zu sein, aber zu hell, um schwarz zu sein. Andererseits geht es aber gerade auch um Identität als Konstruktion und eröffnet da einen spannenden Diskurs.

Seitenwechsel mit Alexander Skarsgård und Ruth Negga
©Netflix

Gerade bei Clare, aber auch zum Teil bei Irene, hat man das Gefühl, dass sie lediglich eine Rolle spielen. Das mag aus Selbstschutz geschehen, um sich in einer feindlichen Gesellschaft durchzuschlagen. Oder auch aus der Sehnsucht heraus, einen Platz für sich in dieser Welt zu finden. Da wird gesucht und sich gesehnt, versteckt und geneidet. Denn als wäre es nicht schon kompliziert genug, bei dieser Gratwanderung den nächsten Schritt gehen zu können, wird durch das Spiegelbild der jeweils anderen alles wieder in Frage gestellt. Seitenwechsel zeigt auf, wie beide durch ihre Entscheidungen etwas gewonnen aber auch verloren haben. Denn eine Entscheidung für heißt auch Entscheidung gegen.

Später verliert Hall diesen Aspekt etwas mehr aus den Augen, wenn die universellen Fragen dem persönlichen Verhältnis der beiden Frauen weichen, welches mindestens ebenso komplex ist wie die Frage nach Identität. Sehenswert sind aber auch diese Passagen, gerade auch wegen der starken Leistungen der beiden Darstellerinnen, von denen Ruth Negga verdientermaßen jüngst für den Golden Globe nominiert wurde. Auch wenn das Regiedebüt sich im Mittelteil gelegentlich etwas verfaselt, entschädigt der Schlussakt mit seinen vielfältigen Deutungsmöglichkeiten über die kleinen Längen hinweg.  Abgerundet wird das Drama durch die vortrefflich komponierten schwarz-weiß-Bilder. Das gibt dem Film etwas aus der Zeit Gefallenes, einerseits klassisch und doch irgendwie märchenhaft. Nur dass hier eben nicht von Prinzessinnen und Fabelwesen die Rede ist, sondern von Menschen, die sich selbst zu Geschichten gemacht haben.

USA 2021 – 98 Minuten
Regie: Rebecca Hall
Genre: Drama
Darsteller: Tessa Thompson, Ruth Negga, André Holland, Alexander Skarsgaard, Bill Camp, Gbenga Akinnagbe, Antoinette Crowe-Legacy, Justus Davis Graham, Ashley Ware Jenkins, uva.
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