Belfast

© Focus Features

Unter schwierigen, fast schon abgeschotteten Bedingungen des ersten, mit Abstand strengsten Lockdowns begann vor fast zwei Jahren die Produktion von Kenneth Branaghs neuestem Werk, das den simplen Titel der nordirischen Hauptstadt trägt. Mit einer Ausbeute von sieben Oscarnennungen geht das Drama als einer der Favoriten ins Rennen um den begehrtesten Filmpreis der Welt und wirkt in vielen Belangen wie aus der Zeit gefallen – und das im bestmöglichen Sinne.

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Multitalent Branagh, selbst in Belfast aufgewachsen, schuf ein bewegendes Porträt mit teilweise autobiographischen, gelegentlich auch amüsanten Einschüben, das die späten 1960er eindrucksvoll bebildert. Der historische Hintergrund in Form des noch heute schwelenden, konfessionell geprägten Nordirlandkonflikts mit einer Vielzahl von Straßenkämpfen ist in der Tat ein ernster und überaus komplexer, dennoch bildet dieser nur den dramaturgischen Überbau, ohne sich dabei um die politische Vorgeschichte oder Schuldfragen zu beschäftigen. Weil der Zuschauer jedoch zum Zeugen einer intimen, von wertvollen Dialogen gefütterten Geschichte rund um eine sechsköpfige Familie inmitten der „Arbeiterklasse“, die sich mühelos auf andere Epochen übertragen lässt, wird, erscheint diese Perspektivwahl jedoch als völlig legitim und gewinnbringend. Die zeittypische Szenenbildgestaltung ist oft simpel und insbesondere wegen der intensiven Kameraarbeit in Schwarzweiß ungemein wirkungsvoll und besonders die kontrastreiche Symbolik der wenigen Szenen, die in Farbe gedreht worden sind, brennt sich ins Gedächtnis ein. Der Soundtrack, der mit Ausnahme einer famosen Neuinterpretation von „Everlasting Love“ ausschließlich Songs von Van Morrison enthält, ist speziell und sicherlich nicht jedermanns Sache, wirkt aber wie eine Liebeserklärung an Nordirland und erhebt die teils dramatischen Bilder auf eine fast schon ätherische Ebene. Ohne Zweifel bildet das als eingeschworene Einheit fungierende Darstellerensemble allerdings das Herzstück von „Belfast“. Der bei Drehbeginn erst 9-jährige Hauptdarsteller Jude Hill liefert als träumerischer Buddy in seinem Leinwanddebüt eine herausragende Darbietung, der man sich kaum entziehen kann, insbesondere im Zusammenspiel mit Ciarán Hinds, der mit Charme in der Rolle des Großvaters zu überzeugen weiß. Während Caitriona Balfe dank zweier hochemotionaler Szenen in Erinnerung bleibt, hätten wohl die wenigsten von Jamie Dornan, welcher einst (ziemlich kümmerlich) Mr. Grey mit Vorliebe für Peitschenhiebe mimte, eine so starke Performance erwartet. Als besonders brillant erweist sich auch Judi Denchs Leistung voller Würde, Warmherzigkeit und scheinbarer Mühelosigkeit, sodass es einen besonders freut, dass sie eine Oscarnominierung erhielt und mit nunmehr 87 Jahren zur ältesten Schauspielerin avancierte, der diese Ehre jemals zuteilwurde.

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Seit dem 24. Februar darf „Belfast“ in den hiesigen Lichtspielhäusern bewundert werden – und sollte es definitiv auch, denn es ist nicht zuletzt eine kraftvolle, psychologisch dichte Parabel auf die heilende, mitunter aber auch beschränkende Kraft der Familie, sondern entfaltet in einer schockierenden Zeit, in der unschuldige Menschen auf unserem Kontinent Angriffen ausgesetzt sind, ungeahnte Relevanz. Wer den Kinosaal nach rund anderthalb Stunden verließ, ohne eine einzige Träne vergossen zu haben, sollte sich beim „Zauberer von OZ“ dringend ein Herz bestellen.

UK 2021 – 99 Minuten
Regie: Kenneth Branagh
Genre: Drama / Tragikomödie / Historienfilm
Darsteller: Jude Hill: Buddy, Caitriona Balfe, Jamie Dornan, Judi Dench, Ciarán Hinds, Colin Morgan, Lara McDonnell, Gerard Horan, Conor MacNeill, Turlough Convery, Gerard McCarthy, Brid Brennan
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