In dieser Saison habe ich wohl keinen Kinostart derart herbeigesehnt, wie es in Bezug auf die Verfilmung des mittlerweile zum Musicalklassiker gereiften „Les Misérables“ der Fall war. Dass ich diesen schon sehr früh aufgrund der Besetzung und der zeitlos genialen Musik als persönlichen Favorit der Saison angesehen habe, dürfte ja für niemanden etwas Neues sein. Wie bei den meisten Liebhabern des Genres hatte ich daraus resultierend immens hohe Erwartungen, schließlich kann bei der Leinwandumsetzung eines solch umfangreichen Werkes auch einiges, wenn nicht sogar alles, schief gehen. „Moulin Rouge“, „Evita“ sowie „Der Zauberer von OZ“ sind bisher die einzigen Musicals gewesen, die von mir die äußerst verdiente Höchstwertung erhalten würden und nun war ich gespannt, ob sich die mutige Adaption des verdienten Oscargewinners Tom Hoopers dazugesellen würde – oder eben nicht.
Um es vorwegzunehmen: Sie tut es beinahe, aber nicht ganz. Ein großartiges, kaum mit anderen Filmen vergleichbares Werk ist zweifelsohne in akribischer und lang geplanter Arbeit entstanden, das den Zuschauer fesselt und über zweieinhalb Stunden bestens, vielseitig unterhält oder mehrfach zu Tränen rührt. Die Leistung des Regisseurs ist, soweit ich das beurteilen kann, tadellos, denn ihm gelang die schwierige Aufgabe, den impulsiven französischen Zeitgeist des frühen 19. Jahrhunderts historisch sehr exakt und zugleich voller Emotionen und Abwechslungsreichtum zu skizzieren. Der Querschnitt durch die unterdrückte, aber aufbegehrende, mannigfaltige Bourgeoisie glückte ausnahmslos perfekt. Zudem war „Les Misérables“ einfach nur ein Fest für Augen und Ohren und zog wohl auch viele, welche keine Musicalfans im engeren Sinne sind, schnell in ihren Bann. Der unbeschreibbar schwierige Umstand, die Darsteller live singen zu lassen, ist ebenso gewagt wie visionär – doch gerade dies fruchtete und machte die Verfilmung von Victor Hugos brillantem Roman nahezu einzigartig gut. Die Filmmusik ist schlicht und ergreifend episch und erhielt durch den Livegesang eine noch emotionalere Wirkung, was insbesondere auf den neu geschriebenen Song „Suddenly“ zutrifft. Doch auch die immer wiederkehrenden instrumentalen Motive bewirkten ein in sich geschlossenes Bild. Trotz einiger Variationen sowie der Kürzung einiger Charaktere ging jedoch zu keinem Zeitpunkt die Nähe zum Original verloren, was ganz besonders zu loben ist. Wer bisher nicht wusste, dass Hooper ein fabelhafter Regisseur ist, dem müsste es spätestens jetzt in allem Umfang klar geworden sein.
Auch im Hinblick auf technische Filmaspekte gibt es rein gar nichts zu bemängeln: Die Kostüme und das Szenenbild waren aufwendig, liebevoll und passten in den geschichtlichen Kontext, das Make-Up waren echt aussehend, Ton und Schnitt makellos und die Kameraführung mitreißend und vor allem emotionsfixierend. Ebendiese hätte ebenfalls eine Nominierung redlich verdient gehabt. Ganz besonders sind in der Gesamtheit der Anfang und die letzte Szene hervorzuheben, da gerade dort technisch einfach alles stimmte!
Das Herzstück der Wirkung und des letztendlichen Erfolgs von „Les Misérables“ bilden allerdings die durchgängig hervorragenden Leistungen der Schauspieler/innen und Sänger/innen. Ein derart kraftvolles und authentisches Ensemble hat man in den letzten Jahren selten gesehen. Hugh Jackman spielte ungemein facettenreich und glaubhaft, trug den Film stellenweise im Alleingang. Wäre Daniel Day-Lewis nicht „im Weg“, würde er den Oscar mit Sicherheit erhalten. Selbiges trifft aber auch auf seinen Gegenspieler, dargestellt von Russell Crowe, zu. Dass er teilweise dermaßen herb kritisiert worden ist, kann ich nicht ganz verstehen. Ihn mag ich zwar allgemein als Darsteller eher weniger, doch auch er bot eine souveräne, stets glaubhafte Vorstellung, die gesanglich gar nicht perfekt sein musste, aber auf jeden fall vorzeigbar war. Anne Hathaways kurze Rolle kann dagegen lediglich mit nichts anderem als mit Superlativen beschrieben werden. Ich habe, mit Ausnahme des Endes von „Moulin Rouge“, wirklich selten während eines Musicals minutenlang am Stück geheult, was vor allem ihrer unfassbaren Interpretation von „I Dreamed A Dream“ zu verdanken ist. Ich hätte nicht erwartet, dass sie zu so einer durch und durch berührenden und echten Darstellung imstande ist, denn sie trug den ganzen Schmerz einer gebrochenen Frau auf ihren Schultern, wirkte aber nicht im Ansatz gekünstelt. Das hatte schon fast nichts mehr mit Schauspiel zu tun, sondern war nur noch pures „Leben“. Es war wundervoll, wie viel nachfühlbare Emotion sie allein in dieses eine Lied packen konnte, gerade wenn ihre Stimme immer wieder einbrach und wie tief sie einen in ihr Innerstes Seelenleben blicken ließ – nicht nur wegen der optischen Transformation. Wenn sie nicht „die Beste“ in diesem Jahr war, muss man sich ernsthaft fragen: Wer denn bitte dann??? Doch waren es vor allem die weiteren Nebenrollen, welche den Film belebten und stets interessant hielten. Die Darstellerin der kleinen Cosette verdient ein ganz dickes Lob, denn sie bot eine grandiose Kinderdarstellung. Dagegen zeigte das Goldkehlchen Amanda Seyfried, dass sie sich seit „Mamma Mia!“ noch einmal gesanglich verbessert hat. Helena Bonham Carter konnte mich ebenfalls erneut mit ihrem extravaganten Charme überzeugen und verpasste dem Film eine feine humoristische Ader. Samantha Barks und Sascha Baron Cohen zeigten ebenfalls absolut überzeugende Darstellungen ihrer genau beleuchteten Charaktere. Erstaunlicherweise ist es Eddie Redmayne, der in meinen Augen innerhalb des Ensembles das „schwächste Glied“ bildet, obschon sich selbst das noch sehen und hören lassen kann! Zwar spielte und sang auch er äußerst bemüht, doch in vielen Momenten etwas „over the top“ und daraus folgend leider nicht ganz glaubwürdig. Bei dem gesanglichen Auftritt zusammen mit Barks und Seyfried empfand ich ihn nichtsdestotrotz wiederum als äußerst stark, gerade gemessen an seinem jungen Alter.
Was ich jedoch als etwas wertungssenkend ansehe, ist die mächtige Lauflänge, speziell die vielleicht zu starke Fixierung auf die Schilderung der Barrikadenkämpfe. Diese beanspruchten mir persönlich etwas zu viel Zeit, auch wenn sie demgegenüber ebenfalls historisch genau beleuchtet wurden. (Ein kleiner inhaltlicher Fehler ist, dass Revolutionäre sich im Jahr 1832 nur noch sehr bedingt der fast nur während der Französischen Revolution, also bis 1799, getragenen Kokarde bedienten.) Zudem wäre ich noch zufriedener gewesen, wenn die Menge der wirklich gesprochenen Dialoge ein klein wenig höher gewesen wäre. Dies fällt nicht stark ins Gewicht, aber geschadet hättet es wirklich nicht…
Das wären die wenigen, minimalen Punkte gewesen, die „Les Misérables“ sogar zu einer klaren Höchstwertung hätten verhelfen können. Dennoch ist dies mal wieder Meckern auf allerhöchstem Niveau! Seinem Favoritenstatus ist die Adaption in jedem Fall gerecht geworden und ich erachte sie als wohl emotionalstes Werk des neuen Jahrhunderts. Am Sonntag drücke ich ganz fest die Daumen, dass bitte nicht nur Anne Hathaway für ihre grandiose Tätigkeit belohnt wird, sondern auch einige technische Sparten gewonnen werden. Für mich ist er neben „Amour“ in der Tat das Beste, das ich in den letzten Monaten zu sehen bekommen habe. Vive la France!