Verbotene Leidenschaft, der Aufbruch in eine fremdartige Welt, psychische und physische Grausamkeit sowie künstlerische Virtuosität… Ein koproduziertes Drama, das vor inzwischen etwas mehr als zwei Dekaden seinen Weg in die Lichtspielhäuser fand, greift all diese Sujets auf und brilliert dabei sowohl auf dramaturgischer und stilistischer wie auch schauspielerischer Ebene. Im Zuge der Realisierung von „Das Piano“ fungierte die gebürtige Neuseeländerin Jane Campion als Regisseurin sowie Drehbuchautorin und inszenierte nicht nur ein bildgewaltiges, am äußersten Rand der südlichen Hemisphäre zu lokalisierende Erzählung voll von Poesie und Arthausqualität, sondern primär eine tragische, psychologisch verdichtete und anspruchsvolle Studie über eine beeindruckende, unsentimental geschilderte Dreiecksbeziehung, die mich bereits während der allerersten Sichtung in jungen Jahren vollends ergriffen hat und obendrein mit drei Oscartrophäen prämiert wurde.
„Die Stimme, die Sie hören, ist nicht meine Stimme, sondern die Stimme in meinem Innern. Ich habe seit meinem sechsten Lebensjahr nicht mehr gesprochen. Niemand weiß, warum. Nicht einmal ich selbst.“ Mit diesen Worten beginnt die Geschichte der stummen Klavierspielern Ada McGrath, doch schon nach wenigen Minuten offenbart sich, dass es keines verbalisierenden Ausdruckes bedarf, um ihr vielschichtiges Wesen zu ergründen. Der poetische und feinfühlige, bisweilen allerdings auch rabiate Blick auf eine arrangierte Ehe in der konventionellen Ära der Frühmoderne wird dem Zuschauer ähnlich reflektierend gewährt wie die Skizzierung des indigenen Māori-Volkes im Kontrast zu den Kolonialisten aus Übersee. Insbesondere das Gespür der Regisseurin für soziokulturelle Charakteristika, intensive Emotionen, tief durchdrungene Personenentwicklungen sowie punktierte Dialoge muss dabei als mustergültig angesehen werden. Überdies sind es Elemente wie die wehmütigen, stets zwischen naturalistischer Schönheit und mystischer Eleganz tendierenden Bebilderungen, welche die symbolistisch beseelte, einfallsreiche Inszenierung im Zusammenspiel mit einer hypnotisierenden Kameraarbeit, erlesenen Kostümen und der stets in Erd- und Grüntönen gehaltenen Farbgestaltung auszeichnen und unverkennbar von anderen Dramen abheben. Peter Jackson war demzufolge bei Leibe nicht der Erste, der erkannt hat, welche visuelle Kraft die Landschaften Neuseelands ausstrahlen. Trotz – oder gerade wegen – der extravaganten Optik wird eine besonders intime, nachfühlbare Atmosphäre generiert, in die sich sowohl zwischenmenschliche Konflikte und Sehnsüchte als auch Erotikszenen voller Sinnlichkeit effektvoll einfügen. Ein Faktum muss ich an dieser Stelle, den dafür Verantwortlichen entgegengerichtet, voller Unverständnis zur Sprache bringen: Hochverehrte Academy, wie in aller Welt konntet ihr einen Film über die Energie des Klavierspiels zwar in acht verschiedenen Kategorien bedenken, jedoch ausgerechnet nicht für die „Beste Filmmusik“, welche wiederum dafür sorgt, dass die Gesamtwirkung im Besonderen in einem grandiosen, akustischen Erlebnis mündet? Die ästhetische Sammlung aus zutiefst berührenden Kompositionen von Michael Nyman derart zu ignorieren, war in jedem Fall ein Tiefpunkt der Oscarhistorie. „Das Piano“ vereint bezaubernde, zeitlose und perfekt zur tiefgreifenden Sensibilität des Gesehenen passende Klangmotive, die gegen Ende ekstatisch variiert wurden und für die Identifikation mit der Protagonistin essentiell sind, weswegen die Stücke dauerhaft in Erinnerung bleiben werden und denen aus „Schindlers Liste“ meines Erachtens ebenbürtig sind.
Was speziell die weiblichen Hauptdarstellungen anbetraf, war der Beginn der 1990er ein regelrechter Triumphzug, denn vor Holly Hunters hochverdientem Sieg erhielten Kathy Bates, Jodie Foster und Emma Thompson nacheinander den begehrtesten Preis der Welt. Hunter hat es geschafft, mit ihrer doppelt beanspruchenden Rolle zu verschmelzen und bewies eindeutig, dass Mimik, Gestik und musikalische Expressivität die Ausdrucksstärke von Worten zweifelsohne zu übersteigen vermögen, sodass ihre präsente Leistung in vielfacher Hinsicht wohl unübertroffen bleiben wird. Auch die kleine, niedliche, gerade erst 11-jährige Anna Paquin, die den Part der Tochter namens Flora übernahm, durfte ihren Oscar (in einem hyperventilierenden Zustand) aus meiner Sicht nicht nur wegen des häufig angeführten Altersbonus‘ entgegennehmen, sondern aufgrund eines unbestreitbaren Maßes an Authentizität und Facettenreichtum, das selbst vielen der erwachsenen Kollegen fehlt. Sam Neill, den ich generell für unterbewertet halte, zeigte als gehörnter Ehemann ebenfalls eine authentische Performance und bildete den perfekten Gegenpol zu Harvey Keitels ungewohnt zurückgenommenen und sensitiven Agieren im sinnbildlichen, „tastenweisen“ Gefecht um die Zuneigung von Ada.
„Das Piano“ wurde darüber hinaus auch mit der „Goldenen Palme“ ausgezeichnet und stellt schlussendlich aus den angeführten Gründen weit mehr als einen gewöhnlichen, melancholisch angehauchten, auf die Interessen von Frauen zugeschnittenen Arthausfilm vor üppig ausstaffierter, historischer Kulisse dar, sondern viel mehr ein inspirierendes, kraftvolles, gleichwohl unvergängliches Plädoyer für Humanität und die Freiheit des feministischen Willens auf bemerkenswerten Darstellerniveau. Ich bin letzten Endes fest davon überzeugt, dass Campion wohl zur ersten weiblichen Regie-Oscargewinnerin geworden wäre – ganze sechzehn Jahre bevor Kathryn Bigelow diese Ehre zuteilwurde, sofern Steven Spielberg im Jahr 1994 nicht den Weg dahin „versperrt“ hätte. Nichtdestotrotz muss man allen Beteiligten Dankbarkeit für die Schöpfung dieses Filmjuwels zollen!