Geschichten, die das Leben sprichwörtlich schreibt und welche sich in der Realität genauso ereignen könnten, stellen ein filmisches Element dar, nach denen es wahrscheinlich nicht nur Liebhabern von kleinen, mit geringem Budget realisierten Leinwandproduktionen aus dem Arthaus- oder Independentfilmbereich in Zeiten einer schier unüberschaubaren Anzahl an Blockbustern dürsten dürfte. Erfüllt von Empfehlungen, persönlicher Neugier und einer gewissen Unvoreingenommenheit, die vermutlich vor allem damit zusammenhing, dass ich mich mit der Filmographie von Charlotte Rampling lange nicht so gut auskenne wie unsere geschätzte Kollegin Melanie, schaute ich mir „45 Years“ nun an. Das Resultat erwies sich als unerwartet gut und kann als bemerkenswerte und feinfühlige Charakterstudie voll von Substanz identifiziert werden, die stellenweise an die Genialität von Hanekes „Liebe“ erinnert, jedoch einen anderen, allerdings mindestens genauso erzählenswerten Ansatz innerhalb langjähriger Partnerschaften wählt.
Im Zuge seines erst dritten Spielfilmes lässt Haigh das geneigte Publikum an einem intimen, ungekünstelten und reflektierten Blick auf die glückliche, viereinhalb Dekaden andauernde Ehe von Kate und Geoff teilhaben, die urplötzlich durch längst vergessene Schatten aus der Vergangenheit auf eine Bewährungsprobe gestellt wird. Dabei werden häufig tabuisierte Themen einer um Aufrechterhaltung bemühten Lebensbindung nicht ausgespart, ohne sich dieser aus Provokationsgründen zu bedienen und zudem wird die ehrliche und besonnene Erzählweise wiederkehrend von Passagen voller feingeistigem Humor durchzogen. Damit verknüpft ist die signifikante Lebensnähe der umgangssprachlichen Dialoge an, dennoch entfalten sich an wichtigen Etappen auch Wortwechsel, welche beinahe Qualitäten erstklassiger Bühnenstücke erinnern. Die psychologisch interessierte Inszenierung, die stets von der Geräuschkulisse der Natur und dem Wechsel zwischen Licht und Schemenhaftigkeit bestimmt wird, lässt einem nicht nur Raum für eigene Gedanken, ohne zu moralisieren oder einen Standpunkt aufzuzwingen und beleuchtet adäquat, wie langwierig Affekte wie Liebe als auch Eifersucht andauern können, wozu auch der überaus stimmige, wenngleich intentioniert sparsame Einsatz der Musik beiträgt. Ein kleiner Wermutstropfen stellt der Umstand dar, dass man sich angesichts des bereits nach einer kurzen Einleitungsphase aufgedeckten Konfliktauslösers gewünscht hätte, in Form von Rückblenden mehr über die zugrundeliegende Vergangenheit zu erfahren und, dass es an prägnanten Nebenfiguren mangelt, wofür jedoch die zwei Hauptbeteiligten entschädigen. So gehe ich im Kontrast zu vielen anderen Oscar-Sparten bezüglich der Hauptdarstellerinnenkategorie mit der Academy in diesem Jahr erstaunlich konform, denn mit Ausnahme von Jennifer Lawrence hätte ich jede der nominierten Damen ebenfalls auf die Liste gewählt. Die authentische, und aus tiefster Seele empfundene Performance von Charlotte Rampling, die in zwei Wochen ihren 70. Geburtstag begehen wird, darf als nichts anderes als eine Sensation bezeichnet werden und insbesondere in den Szenen in der zweiten Filmhälfte brilliert sie nahezu ausschließlich mit scheinbar mühelosen Blicken und Gesten, die den weiteren Verlauf lebendig halten und derart intensiv ausschmücken, das es keiner weiteren Worte bedarf. In einer Saison, die nicht vergleichbar viele starke Herren in Hauptrollen hervorgebracht hat, hätte man auch Tom Courteney ein höheres Maß an Beachtung von Herzen gegönnt, denn er hält Ramplings grandiosem Agieren nicht nur stand und harmoniert im Zusammenspiel fantastisch mit ihr, sondern überzeugt mit Emotion wie Courage.
Die sensationellen Bewertungen in vielen etablierten Filmforen erscheinen daher durchaus als gerechtfertigt, andererseits jedoch mutet die hochverdiente Nominierung der gerade von Seiten der BAFTA-Mitglieder sträflich übergangenen Hauptdarstellerin im Hinblick auf fehlende, weitere Nennungen beinahe etwas mager an. Obwohl der bereits angesprochene, fünffach oscarnominierte Auslandsfilm „Amour“ in der Gesamtheit der Perfektion noch ein ganzes Stück näher kam, ändern kleine Unzulänglichkeiten nichts daran, dass „45 Years“ einen nachwirkenden Eindruck hinterlässt. Wieder einmal muss man es regelrecht beweinen, dass eine britische Perle wie diese durch ihren ruhigen, geradlinigen, unverbogenen Stil schätzungsweise Dreiviertel der Menschheit nicht ansprechen dürfte, dennoch bestärkt es mich in der wohlgefestigten Meinung, dass für ein berührendes und involvierendes Drama schlicht und ergreifend nicht mehr benötigt wird als zwei fantastische Darsteller und ein Erzählgegenstand mit Durchschlagskraft und Lebensrelevanz.