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Heute, exakt einen Monat vor Heiligabend, erlebt ein Film seine Premierenvorstellung auf Netflix, der nicht nur von mir seit Veröffentlichung des Trailers wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk erwartet wurde. Die immense Vorfreude auf die auf dem autobiographischen Sachbuch des Managers James David „J.D.“ Vance (*1984) basierende Verfilmung „Hillbilly Elegy“ rund um dessen destruktive Familie aus dem Rust Belt wurde jedoch durch erste, teils harsche Kritikerstimmen gedämpft. Wenngleich der regieführende Ron Howard („A Beautiful Mind“, „Der Grinch“) keine perfekte Illustration der Schranken des American Dream schuf, erweist sich eine Sichtung – nicht nur dank der außergewöhnlichen Darbietung von Glenn Close – dennoch als souverän und sehenswert, sofern man bereit ist, sich darauf möglichst objektiv einlassen zu wollen.
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Die offerierte Geschichte umfasst annähernd 17 Jahre und wird nicht linear, sondern retrospektiv aus der Sicht der Protagonisten erzählt. J.D. – mittlerweile angehender Jurist – merkt schnell, dass seine Vorgeschichte voller Traumata und Umbrüche ihn nicht nur im Hinblick auf Klassenunterschiede fortwährend einholt. Wiederholt steht man unter Starre, wenn die Mutter wie besessen auf ihren eigenen Sohn einprügelt und die Großmutter mit genuschelten Schimpfworten nur so um sich pfeffert. Vieles davon ist nur mit Mühe zu ertragen, unabhängig davon, ob man selbst nun in einem behüteten Elternhaus aufwuchs oder nicht und trotz gelegentlicher Theatralik behält sich das Gebotene einen wehmütigen Realismus bei und pendelt zwischen Eskalation und Rast. Brandaktuelles Couleur erhält das Drama auch durch seine Bezüge zum Bundesstaat Kentucky – einer republikanischen Hochburg, in der der scheidende US-Präsident Donald Trump auch vor einigen Wochen eine überragende Zweidrittelmehrheit (!) aller Wählerstimmen erringen konnte. Exakt auf dieser Betrachtungsebene liegen auch die unbestreitbaren, narrativen Reserven, denn der hochpolitische Überbau wird weitestgehend unbewertet gelassen und nicht als potentieller Katalysator begriffen, der die Handlung noch weiter vorantreiben könnte oder ihr zusätzliche Relevanz verleihen könnte. Demgegenüber beweist insbesondere Hans Zimmer eindrucksvoll, dass er in der Lage ist, jedes Filmgenre grandios zu untermalen, denn der Soundtrack zählt zu den großen Stärken des Films auf inszenatorischer Ebene und schwillt wie ein Seelentröster in den exakt richtigen Momenten an.
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Dass der Zweistünder häufig durch Einzelsequenzen überzeugt statt als Gesamtwerk liegt entscheidend an dem Ensemble, das skriptbezogene Schwächen ausgleichen kann. Nach einer an Superlativen nicht gerade armen, fast 40-jährigen Vita als Filmschauspielerin ist Glenn Close in einem skurril aussehenden Rollentypus zu sehen, den man nicht von ihr schlichtweg nicht kennt. Ganz gleich, ob sie pöbelt, Schlichtungsversuche unternimmt oder einfach vielsagend beobachtet: Sie ist eine Wucht und verleiht der Produktion sowohl Würde und Präsenz als auch Involvierungscharakter. Man kann nur hoffen, dass ihr im achten Anlauf endlich die längst überfällige Oscartrophäe zuerkannt wird. Neben Gabriel Basso und Owen Asztalos, die beide den Protagonisten in unterschiedlichen Lebensaltern mimen, ist es vor allem Amy Adams, die im Gedächtnis bleibt. Wenngleich nicht abzustreiten ist, dass sie sporadisch auch einen Gang hätte zurückschalten können, ist das Gebotene eindrucksvoll und vermittelt das Gefühl, dass ein Individuum sich nach Jahren voller Perspektivlosigkeit, Lethargie und Heroinabhängigkeit tatsächlich in diese überdrehte, emotional verkümmerte Richtung entwickeln könnte.
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Nach Abwägung ist „Hillbilly Elegy“, der in Europa sicherlich besser ankommen dürfte als in den Staaten, zwar bei Weitem nicht makellos oder vollends erwartungserfüllend und funktioniert deutlich stärker als psychologische Studie eines losgelösten Familienkosmos denn als universelles Gesellschaftsdrama. Nichtdestotrotz rüttelt er in vielen Belangen auf, bricht überdies eine Lanze für die Wichtigkeit von Großeltern und bietet stark dialogisierte Schauspielsequenzen. Genau deshalb ist das Gesamtergebnis ein solides und daher einer unvoreingenommenen Chance würdig.
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Regie: Ron Howard
Genre: Drama / Familiensaga / Biographie
Darsteller: Amy Adams, Gabriel Basso, Glenn Close, Owen Asztalos, Haley Bennett, Freida Pinto, Bo Hopkins, Jesse Boyd, Sunny Mabry, Lucy Capri, Sarah Hudson