Wenn es kommt, dann kommt alles auf einmal, wer kennt es nicht? Bei Evelyn Wang (Michelle Yeoh) ist es ähnlich: Die Ehe mit ihrem Mann Waymond (Ke Huy Quan) kriselt schon seit Längerem. Außerdem findet sie keinen Draht mehr zu ihrer Tochter Joy (Stephanie Hsu) und ihrem eigenen Vater (James Hong) konnte sie es ohnehin nie recht machen. Und dann auch noch das: Der Waschsalon der Familie bringt mehr Ärger als Geld, vor allem mit der Steuerbehörde. Wenn sie nicht irgendwie ihre Sachbearbeiterin Deirdre Beaubeirdra (Jamie Lee Curtis) auf ihre Seite ziehen kann, drohen sie alles zu verlieren, was sie sich im Laufe der Jahre aufgebaut haben. Dass ihr Mann auf dem Weg zur Behörde plötzlich so komische Sachen von sich gibt und davon faselt, dass sie die Welt retten muss, kann sie daher absolut nicht gebrauchen. Doch dann stellt sie fest, dass hinter dem vermeintlichen Unsinn mehr steckt, als sie ahnte, und diese Welt einige Überraschungen für sie bereithält. Unter anderem die, dass sie nicht die einzige ist…
Ehre, wem Ehre gebührt: Mit ihrem Spielfilmdebüt Swiss Army Man schufen Daniel Kwan und Daniel Scheinert einen sehr eigenwilligen Debütfilm und machten das erste Mal auf sich aufmerksam. Ganze sechs Jahre werkelten Daniel Kwan und Daniel Scheinert an Everything Everywhere All At Once und es hat sich definitiv gelohnt. Mit der Geschichte um eine Frau, die plötzlich durch mehrere Parallelwelten stolpert, haben sie ein Werk geschaffen, welches seit nun 9 Monaten den Hype standhält, wobei ist das Konzept solcher Parallelwelten natürlich keines, das irgendwie neu wäre. Vor allem das Science-Fiction-Genre hat immer mal wieder auf dieses zurückgegriffen. Derzeit ist es vor allem der Bereich der Comic-Adaption, der sogenannte Multiversen für sich zu nutzen versucht, indem plötzlich alle Publikumslieblinge zusammen auf der Leinwand zu sehen sind, obwohl das eigentlich keinen Sinn ergibt. Spider-Man: No Way Home wurde dank dieser geballten Ladung Fanservice zum Milliardenerfolg. Mit Doctor Stange in the Multiverse of Madness und The Flash soll die Geldquelle noch ein bisschen mehr sprudeln. Das birgt schon ein wenig die Gefahr der Übersättigung. Aber vergleichen kann man Everything Everywhere All At Once der Daniels nicht mit den Blockbuster-Varianten.
Zum einen geht es hier nicht darum, verschiedene Figuren zusammenzuführen. Parallelwelten bedeutet hier vielmehr, dass es zahlreiche Versionen ein und derselben Figur gibt. Tatsächlich ist das Ensemble vergleichsweise klein. Der Film konzentriert sich vielmehr auf die Familienmitglieder und welche Wege sie in den verschiedenen Welten so eingeschlagen haben. Das ist dann auch eines der zentralen Themen in Everything Everywhere All At Once: Evelyn muss sich angesichts einer wenig beglückenden Gegenwart mit der Frage auseinandersetzen, was alles schief gegangen ist und was besser hätte laufen können. In bester was-wäre-wenn-Manier rast der Film durch Alternativszenarien, in denen die Protagonistin andere Entscheidungen getroffen und damit völlig andere Ergebnisse erzielt hat. Das bedeutet klar auch ein Bedauern, wenn die anderen Welten zumindest auf den ersten Blick so viel cooler und interessanter sind, aus der unscheinbaren Hausfrau sehr viel mehr wurde.
Diese Nachdenklichkeit wird jedoch mit einem wahnsinnigen Gute-Laune-Trip verknüpft. Nicht nur dass diese anderen Welten teilweise völlig bescheuert sind und plötzlich alles, wirklich alles möglich ist. Durch die Vermischung der verschiedenen Welten stolpert unsere Heldin wider Willen in eine absurde Situation nach der anderen. Zudem darf die frühere Martial-Arts-Ikone Michelle Yeoh (Tiger & Dragon) auch richtig aktiv werden: Everything Everywhere All At Once spart nicht an Actionszenen. Die sind von der gleichen Absurdität wie die Welt und die Geschichte, wenn das Konzept von Waffen ständig neu geschrieben wird. Sie sind aber kein bloßer Quatsch, sondern Ausdruck echter Kampffertigkeit, wie man sie in US-amerikanischen Filmen heutzutage leider kaum noch sieht. Auch wenn hier und da natürlich tricktechnisch nachgeholfen wurde und das hier kaum als „echter“ Kampf durchgehen würde: Da wurde mit deutlich mehr Körperlichkeit und Liebe zur Kampfkunst gearbeitet – so wie der Film allgemein immer wieder eine Verneigung vor anderen Filmen darstellt.
Da gibt es viel zu bewundern, viel zu schauen und zu staunen. Es gibt aber vor allem viel zu fühlen. Wo andere Filmschaffende den Irrsinn zum Selbstzweck machen, da ist er hier das Gerüst für eine Geschichte, die emotionaler kaum sein könnte. Vor allem die Beziehung zwischen Mutter und Tochter entfaltet mit der Zeit eine Wucht, neben der viele tatsächliche Dramen ganz klein und unpersönlich wirken. Themen wie Sinnkrisen bis hin zur Depression und das Gefühl, völlig im Leben versagt zu haben, die Angst vor Schmerzen und die Sehnsucht nach einer Welt, in der man nicht mehr Erwartungen entsprechen muss – der Kampf durch die Welten bedeutet einen Kampf mit sich selbst und den eigenen Abgründen. Dass dieser nicht immer erfolgreich ist, das werden die meisten insgeheim zugeben. Muss er aber auch nicht, so Kwan und Scheinert. Unterstützt von einem fabelhaften Ensemble, bei dem neben den Golden Globe-Gewinnern Michelle Yeoh und Ke Huy Quan (Die Goonies) auch Stephanie Hsu, sowie Scream-Ikone Jamie Lee Curtis Glanzauftritte haben, machen sie Mut, sich all dem zu stellen, vor dem wir sonst gern davonlaufen. Zeigen die Schönheit des Scheiterns. Die kunterbunte Achterfahrt Everything Everywhere All At Once ist ein Film, den man sich anschaut, wenn nichts mehr in der Welt Sinn ergibt, weil er einen daran erinnert, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Fazit: „Everything Everywhere All At Once“ nimmt das im Science-Fiction-Bereich beliebte Konzept der Parallelwelt und macht daraus einen schönen und menschlichen Film. Einfallsreiche Actionszenen und aberwitzige Szenarien treffen auf eine emotionale Geschichte über die Bedeutung von Familie, existenzielle Selbstzweifel bis hin zu Depressionen und darüber, was es heißt ein Mensch zu sein in einer Welt, die keinen Sinn ergibt – und auch nicht ergeben muss. Ein ganz heißer Kandidat für die kommenden Awardshows, zumindest wenn die Voter sich drauf einlassen!
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