In dieser Saison mutet die Diskrepanz zwischen den US-amerikanischen und den deutschen Kinostartterminen hinsichtlich der potentiellen Anwärter auf den wichtigsten Filmpreis der Welt ungewöhnlich, beinahe schon quälend lang an. Spätestens jetzt, pünktlich zur dicht bevorstehenden Verkündung der diesjährigen Nominierten füllen sich die Spielpläne der hiesigen Lichtspielhäuser jedoch endlich spürbar mit namhafteren Produktionen. Nach dem fast schon experimentierfreudig inszenierten „Anna Karenina“ und dem von Kritikern und Publikum gleichermaßen zerrissenen Fantasy-Epos „Pan“ wandelt Joe Wright wieder auf konventionelleren Pfaden und widmet sein treffend betiteltes Historiendrama „Die Dunkelste Stunde“ dem bedeutendsten, gleichwohl exzentrischsten Staatsmann in der ausgedehnten Geschichte des Vereinten Königreichs. Schlussendlich erweist sich die zeitnahe Inaugenscheinnahme von Wrights inzwischen siebenter Regieführung nicht nur dank seines herausragenden agierenden Hauptdarstellers als ausgesprochen heilsame Erfahrung, sondern auch wegen des unverkennbaren, gekonnt zwischen Nüchternheit und Überzeugungskraft pendelnden Gespürs für ein düsteres, folgenreiches Kapitel europäischer Geschichte, das nicht nur der bloßen Würdigung des Wirkens von Sir Winston Churchill (1874 – 1965) ausgerechnet im Jahr 2017 gefertigt worden ist. Zusätzlich dürfte es Bände sprechen, sich an einem frühen Sonntagnachmittag inmitten eines restlos ausverkauften Kinosaals wiederzufinden, das während des kompletten Abspanns innehielt…
Dramaturgisch im Stile eines unaufhaltsam voranschreitenden Kalenders mit überlebensgroßen Lettern aufgebaut, bildet die kammerspielartige Chronologie in nahezu allen Belangen ein regelrechtes Fest für alle Enthusiasten historischer Stoffe und originalgetreuer Dialoge. Zweifelsohne forciert die grundlegende und bisweilen Pathos entfaltende Charakterzeichnung des ruppigen, kettenrauchenden Briten das Element der Idealisierung, doch ebendies fällt nicht allzu stark ins Gewicht, da der bebilderte Zeitraum lediglich den folgenschweren Mai des Jahres 1940 umfasst – also ebenjenen Zeitpunkt, an dem Hitler dem „Endsieg“ erschreckend nah war – und somit einer verdichteten, gleichwohl komplexen Momentaufnahme entspricht, welche auch die Unzulänglichkeiten und kennzeichnenden Bonmots des Porträtierten zelebriert. Obschon man das in „Abbitte“ und „Dunkirk“ ausgedehnt illustrierte Kriegsgeschehen an Frankeichs Nordküste nur in aller Kürze direkt vor Augen geführt bekommt, ist die nahende Bedrohung der Wehrmacht aufgrund der genialen Kameraarbeit und verdunkelnden, klaustrophobischen Gestaltung dennoch allgegenwärtig und wird insbesondere in Gestalt der Privatsekretärin Elizabeth greifbar. Zugleich wird das zögernde Verhalten der USA und das Versagen der blauäugigen Appeasement-Politik kritischer als üblich beleuchtet und betont, dass Churchills größte Lebensleistung nicht etwa im Gewinn seines Literatur-Nobelpreises bestand, sondern darin, den tyrannischen Wahn Hitlers weitsichtig erkannt zu haben. Die U-Bahn-Sequenz dürfte in buchstäblicher Hinsicht in das Reich der Legenden verortet werden, dennoch zählt sie zu den Highlights und führt dem Zuschauer im Hinblick auf die aktuellen Vorgänge in Großbritannien parabelhaft vor Augen, dass politische Entscheidungen zuallererst der Fürsprache des Volkes bedürfen sollten. Weiterhin profitiert das Gezeigte enorm von der erhabenen und in den entscheidenden Augenblicken eingesetzten Filmmusik, die mithilfe des bombastischen Stücks „We Shall Fight“ in der Finalszene dermaßen auftrumpft, dass an Dario Marianellis vierter Oscarnominierung kein Weg vorbei führen dürfte. Speziell dieser Umstand lässt es den Verantwortlichen auch verzeihen, dass der Mittelteil eine Spur zu lang geraten ist. Zudem kann die unfassbar akkurate Arbeit der Make-Up-Artisten (und Haarstylisten) nur als Sensation betitelt werden und erneut stellt sich die Frage, wann die Sparte von Seiten der Academy endlich von drei auf fünf Aspiranten erhöht wird.
Freilich sind es jedoch nicht die aufwendigen Gesichtsprothesen, die Winston Churchill förmlich wiederauferstehen lassen, sondern die Raffinesse von Gary Oldman, der seinen 60. Geburtstag wohl zurecht als frischgebackener Oscargewinner feiern kann. Er offeriert nicht nur die bis dato mit Abstand wertvollste Darbietung seiner Karriere, sondern in meinen Augen eine der besten Hauptdarstellerleistungen des vergangenen Jahrzehnts, da es ihm konsequent gelang, den schmalen Grat zur Nachäffung meisterhaft zu umschiffen und eine Aura versprüht, die ihresgleichen vergeblich sucht. Trotz Oldmans enormen Einfühlungsvermögens für die inneren und äußeren Charakteristika des zunächst ungeliebten Premierministers lässt das Schimmern seiner Augen einen fortwährend nicht vergessen, wer sich hinter der Maskerade verbirgt. Weiterhin sehen auch Ben Mendelssohn und Ronald Pickup den historischen Vorbildern König Georg VI. und Neville Chamberlain nicht nur zum Verwechseln ähnlich, sondern überzeugen auch in darstellerischer Dimension mit veritablen Auftritten. Leidglich von Kristin Scott Thomas hatte ich mir im Vorfeld etwas mehr erhofft, die zwar der One-Man-Show ihres Filmpartners souverän standhält, jedoch vom Drehbuch nicht genügend Glanzmomente zugestanden bekommt.
Zur Klassifizierung als allumfassendes Meistwerk mag sicherlich das sprichwörtliche Quäntchen fehlen, dennoch stellt „Die Dunkelste Stunde“ ein kraftvolles, durchdachtes und würdiges Denkmal für ebenjenen, kauzigen Mann dar, der das schwere Amt als Regierungschef zweifach ausüben sollte und sein Land erfolgreich durch das folgenreichste Gefecht der Geschichte navigierte. Wrights Film darf in letzter Instanz als mehr angesehen werden als nüchterne, tatsachenbasierte Chronologie, denn er entfaltet auch eine gedankenbefördernde Studie über die Notwendigkeit europäischer Werte und eines Zusammenhaltes, der gerade in einer beklagenswerten Phase des Rechtsrucks und Bruchs innerhalb der EU einmal mehr von größtmöglicher Signifikanz erscheint…