
In Gestalt von „Systemsprenger“ gelang der erst 35-jährigen Nora Fingscheidt das Kunststück, sich mit ihrem Spielfilmdebüt direkt Hoffnungen auf eine Oscarnominierung machen zu dürfen, wozu es äußerst selten kommt. Die Produktion setzte sich im Rennen um den deutschen Beitrag als „Bester Internationaler Film“ gegen starke Konkurrenten wie „Lara“, „Der Junge Muss An Die Frische Luft“ sowie „Und Der Zukunft Zugewandt“ durch. Dass die Jury der diesjährigen Berline das Erstlingswerk darüber hinaus als „beklemmendes, einfühlsames und genau recherchiertes Szenario über unser pädagogisches System und ein ergreifendes, humanistisches Plädoyer für (…) die vermeintlich Dysfunktionalen“ feierte, schürte zusätzlich immense Erwartungen. Im Endergebnis liegt diese Klassifikation wie so oft im Auge des Betrachters. Obwohl das Porträt der neunjährigen, hochaggressiven Bernadette bei Weitem nicht auf allen Ebenen zu überzeugen weiß, unternimmt es dennoch einen ambitionierten Versuch und möchte vor allem beweisen, dass die deutsche Filmlandschaft sich gelegentlich auch wichtigen, zeitgenössischen Problemen zuzuwenden traut.

Das Drama im dokumentarischen Stil stellt von Anbeginn die Frage nach der potentiellen Unerziehbarkeit so genannter „Systemsprenger“, denn an Benni verzweifelten nach und nach sowohl Lehrkräfte, Erzieher, Wohngruppen als auch die leibliche Mutter. Fortwährend wird die Szenerie voller Wut, Resignation und Überforderung von abrupten Kontrasten im Hinblick auf Helligkeit und Lautstärke schlagartigen Schnitten durchzogen, was die brodelnde und unberechenbare Gefühlswelt der Protagonistin effektvoll und überaus ideenreich unterstreicht. Auch die Wahl einer wackeligen Kameraführung erschließt sich in diesem Zusammenhang, dennoch strapaziert ebendiese Eigenwilligkeit auch die Sehgewohnheiten vieler Zuschauer entscheidend. Die ungeschönte Dialogisierung trägt dazu bei, sich sowohl in das Kind als auch in die sozialen Instanzen hineinzuversetzen, dennoch erscheinen die Bemühungen der Letztgenannten nicht immer entsprechend gewürdigt zu werden. Des Weiteren ist der Handlungsablauf von einem Hang zur inhaltlichen Duplikation gekennzeichnet. Aus diesem Grunde wirkt die Aneinanderreihung an sich wiederholenden Szenenmustern, die jeweils in heftige Schockmomente münden, angesichts der Laufzeit von zwei Stunden zu ausgedehnt, während die Möglichkeit zum Mitfühlen nur sporadisch gewährt wird und stattdessen Entsetzen die vordergründige Emotion bildet. Eine Ausnahme bilden ebenjene Szenen, die im Zusammenhang mit der Einzelbetreuung in ländlicher Umgebung stehen. Anhand der problematischen Gegenüberstellung von Nähe und Distanz werden die mit Abstand aufrichtigsten, feinfühligsten Momente offeriert, während der Schlussakt wiederum Fragezeichen generiert und gewissermaßen „unrund“ anmutet. Diesen Mankos stellen sich vor allem die Darsteller mit denkwürdigen und glaubwürdigen Auftritten entgegen. Am stärksten bleiben die Leistungen der 2008 geborenen Nachwuchsschauspielerin Helena Zingel sowie des gebürtigen Thüringers Albrecht Schuch in der Rolle des erlebnispädagogischen Trainers im Gedächtnis.

Insbesondere die Botschaft, dass eine wiederholte Entfremdung die wohl folgenschwerste Gefahr für die labile Psyche von Heranwachsenden ist, verleiht „Systemsprenger“ seine Daseinsberechtigung und auch der geplante Einsatz als Unterrichtsmedium erschließt sich vielfach. Bei der Kreierung eines sich abhebenden Filmes wurde jedoch versäumt, dem Skript einen einheitlichen Schliff zu verleihen. Trotz einzelner, nachwirkender Sequenzen verbleibt es daher bei einem durchschnittlichen Filmereignis, das Missstände aufzeigt, allerdings nur gelegentlich involviert. Im direkten Vergleich zu anderen, nicht-englischsprachigen Filmen wie „Leid & Herrlichkeit“ scheint eine Oscarnennung zwar nicht unmöglich, aber deutlich weniger verdient.

Regie: Nora Fingscheidt
Genre: Drama
Darsteller: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub, Victoria Trauttmansdorff, Maryam Zaree, Tedros Teclebrhan