Als Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon Prime ihre jeweiligen Erfolgszüge antraten, lief ich in Unkenntnis davon persönlich jahrelang dagegen Sturm. Eine damit verbundene Sorge war vor allem die latente Angst vor dem Verfall der klassischen Kino-Kultur. Allein in der letzten Filmsaison waren jedoch gleich drei der großen Oscar-Anwärter ausschließlich auf Netflix zu sehen. Zusätzlich sorgte der pandemiebedingte Lockdown zur Schließung sämtlicher Lichtspielhäuser und resultierte in einem Rekord an Neuregistrierungen von Netflix, das inzwischen verstärkt Eigenproduktionen offeriert. Nach überwundener Skepsis zähle ich mich nun auch seit April zu den 200 Millionen Nutzern und durfte erst dadurch in den Genuss einer britischen Dramedy-Serie kommen, die dank des plakativen Titels zunächst einmal keine riesigen Erwartungen weckte, sich allerdings schnell zum Highlight mauserte und letztlich nicht nur Amüsement, sondern auch überraschend viel Tiefe bietet.
Im Zentrum von „Sex Education“ steht der 16-jährige, introvertierte College-Schüler Otis Milburn, der trotz seiner Jungfräulichkeit pausenlos mit schlüpfrigen Themen konfrontiert wird, weil seine alleinerziehende Mutter Jean als erfolgreiche Sexualtherapeutin tätig ist und oft ungefragte Ratschläge erteilt, während nahezu alle Mitschüler mehr oder weniger ausschweifend ihre ersten Erfahrungen sammeln. Otis‘ bester und einziger Freund, der flippige, bekennend homosexuelle Eric, ist das genaue Gegenteil von ihm. Durch einige Zufälle und aufgrund der steigenden Nöte der Altersgenossen zieht er gemeinsam mit der als promiskuitiv verschrienen Einzelgängerin Maeve ein lukratives Business inmitten der Schulmauern auf und versucht sich als Seelsorger für anreizende Belange.
Was sich zusammengefasst wie austauschbarer Teenie-Klamauk liest und reichlich infantil anmutet, gerät jedoch zu einem überaus couragierten, wichtigen Serienbeitrag und setzt sich kritisch und augenzwinkernd mit einem Mikrokosmos von Jugendlichen auseinander, der trotz allen Fortschritts und entgegen der weitläufigen Meinung weit davon entfernt ist, sich ohne Hilfe aufzuklären. „Sex Education“, gedreht in Wales und visuell beinahe aus der Zeit gefallen, geht weit über naheliegende, eindimensionale Kalauer über Erektionsprobleme und Sexualhygiene hinaus, zeichnet sich stattdessen durch ein schneidiges Gespür für Timing und Abwechslung aus und verleiht den Beteiligten sowohl Emotion und Tiefe als auch Allgemeingültigkeit. Dem Sammelsurium aus skurrilen, teilweise sogar grotesken Charakteren ist eines gemeinsam: Sie alle sind auf ihre Weise Sympathieträger mit Identifikationsflächen und erinnern sicherlich einige von uns an die eigenen ersten, häufig kläglichen Erfahrungen. Nur gelegentlich wird dabei der Bogen leicht überspannt. Infolge eines regelrechten, scharf dialogisierten Gagfeuerwerks der Pilotfolge wird spätestens ab der dritten Episode das Übermaß an Lebensrelevanz überdeutlich. Im weiteren Verlauf, ganz besonders jedoch in der zweiten Staffel, entfaltet sich eine Vielzahl an ernsten Sujets und so finden Schwangerschaftsabbrüche und sexuelle Belästigung in Zeiten von #MeToo und der Wettlauf um den Verlust der Unschuld ebenso einen reflektierten Platz wie eine Vielzahl von Eltern-Kind-Konflikten sowie der zunehmende Leistungsdruck auf mehreren Ebenen. Besondere Tragik liegt auch in den Handlungssträngen, die sich tränenfördernd mit der Schwierigkeit unerwiderter Liebe beschäftigen. Speziell der schwule Afroamerikaner Eric wurde gelegentlich zwar einen Hauch überzeichnet, steht jedoch andererseits als Parabel für die allzu häufige Bedienung von Klischees im Hinblick auf die LGBT-Community. Die Botschaft der bisher 16 Folgen ist allerdings eine überaus schöne, denn letztlich tritt „Sex Education“ dafür ein, dass in gewisser Weise alle Jugendlichen ein individuelles Coming Out auf dem beschwerlichen Weg zur Selbstakzeptanz erleben – unabhängig davon, ob sie nun homo-, hetero-, bi-, pan- oder asexuell veranlagt sein mögen.
Neben einer vor Spielfreude überschäumenden Gillian Anderson ist es vor allem Asa Butterfield, welcher einer der „alten Hasen“ des Ensembles bildet, seine Karriere bereits im Alter von 9 Jahren begann und unter anderen im oscarprämierten „Hugo Cabret“ auf sich aufmerksam machte, der eine zutiefst liebenswerte Performance bietet und sich rasch in die Herzen spielt. Unter der Riege junger, unverbrauchter Darsteller, von denen viele ihr jeweiliges Fernsehdebüt geben, stechen vor allem Ncuti Gatwa, Connor Swindells und ganz besonders Emma Mackey heraus, die stark an Margot Robbie erinnert, während es Anne-Marie Duff und Sarah Malin innerhalb weniger Minuten an Screentime gelingt, im Gedächtnis zu bleiben. Abgerundet wird die Serie durch einen zutiefst abwechslungsreichen Soundtrack, der sowohl Jazzstücke und neu arrangierte Chorwerke als auch Punksongs sowie Klassiker von Billy Ocean und a-ha vereint.
In Summe ist „Sex Education“, der die schönste Nebensache der Welt mit einer gehörigen Portion Ironie und Lehrreichtum beleuchtet, eine überaus kurzweilig inszenierte, grenzenlose unterhaltsame, positive Überraschung und dürfte vielen Menschen über die tristen Stunden des Corona-Lockdowns hinweg geholfen haben. Es erfüllt einen daher mit großer Freude, dass vor Kurzem eine dritte Staffel in Auftrag gegeben wurde, die aktuell produziert wird, denn die Geschichte um Otis, Maeve und Eric fühlt sich noch nicht auserzählt an und man darf sich jetzt schon freuen, wie turbulent das Abschlussjahr auf der High School verlaufen wird und, ob zwei der Hauptcharaktere trotz aller Missverständnisse doch noch zueinander finden werden.
Staffel 1
Folge 1.01 – 8/10
Folge 1.02 – 8/10
Folge 1.03 – 9,5/10
Folge 1.04 – 8/10
Folge 1.05 – 8,5/10
Folge 1.06 – 7/10
Folge 1.07 – 8/10
Folge 1.08 – 8,5/10
Staffel 2
Folge 2.01 – 8,5/10
Folge 2.02 – 7,5/10
Folge 2.03 – 7,5/10
Folge 2.04 – 8/10
Folge 2.05 – 7,5/10
Folge 2.06 – 9/10
Folge 2.07 – 9/10
Folge 2.08 – 9/10