Entgegen unserer Tradition, im Idealfall im monatlichen Turnus ein spezielles Werk der Filmgeschichte zu präsentieren und diskutieren sowie folglich entweder ins Gedächtnis zurückzurufen oder jedoch zur erstmaligen Sichtung zu animieren, wird es heute ausnahmsweise sogar um zwei thematisch in auffälligem Maße verwandte Thriller mit psychotischer Charakterausformung gehen, die im Abstand von nur zwei Jahren jeweils unter der Leitung von Robert Aldrich entstanden sind und sich trotz einer äußerst ambivalenten Rezeption insgesamt zwölf Oscarnominierungen verdienen konnten. „Was Geschah Wirklich Mit Baby Jane“ und der ursprünglich unter dem Arbeitstitel „Whatever Happened To Cousin Charlotte?“ als Fortsetzung geplante Film „Wiegenlied Für Eine Leiche“ haben jedoch nicht nur den Regisseur und eine der Hauptdarstellerinnen gemeinsam, sondern ebenfalls eine raffinierte und eigenartig bedrohliche Grundstimmung inmitten eines begrenzten Raums, in der sich ein äußerst perfides Spiel rund um schwerwiegende Abgründe der menschliche Psyche entfesselt. Trotz keines direkten Zusammenhangs, was die handelnden Personen innerhalb der beiden Produktionen anbetrifft, können beide Genremischungen lediglich in wechselseitigem Verhältnis zueinander betrachtet werden, weswegen sich die Durchführung eines direkten Vergleichs förmlich anbietet.
Was Geschah Wirklich Mit Baby Jane? (OT: What Ever Happened To Baby Jane?)
Im Vergleich zu den meisten anderen Spezies zeichnet sich der Homo Sapiens nicht nur durch ein hohes Maß an Intelligenz, Loyalität, Familiensinn und Erfindungsreichtum aus, sondern wird zudem stärker als jedes andere Lebewesen von seinen innersten Emotionen geleitet. Wie schlecht der Mensch aber aufgrund ebendieser affektiven Prägung auch denken oder aber handeln kann, wenn er sich unterlegen oder ungerecht behandelt fühlt, führt uns das in Frageform formulierte Werk Aldrichs vor Augen, das seinen Klassikerstatus aus meiner Sicht völlig zu Recht innehat. Seinerzeit trotz fünfmaliger Oscarnominierung von einigen Kritikern regelrecht in der Luft zerrissen, stellt „Was Geschah Wirklich Mit Baby Jane?“ in vielerlei Hinsicht einen darstellerischen und stilistischen sowie gänzlich zeituntypischen Paukenschlag dar, der sowohl besonders nachwirkend und provokant als auch in seiner Machart einzigartig inszeniert wurde.
Unverkennbar trägt das stets effektvoll zwischen Darstellerfilm, intensiver Psychostudie und verschiedenen Horrorelementen balancierende Kammerspiel um zwei alternde, durch Parallelen und ein unaufgedecktes Geheimnis verbundene Schwestern, von die Gutherzige nach höchst erfolgreicher Schauspiellaufbahn unerwartet an einen Rollstuhl gefesselt ist, während die andere durch die Erinnerung an längst vergangene Tage und Alkoholmissbrauch nach und nach in einem manischen Zustand schwebt, diverse Hitchcock’sche Züge, an denen der Altmeister seine Freude gehabt haben dürfte. Durch die nur wenige Akteure enthaltende Personenkonstellation gleitet der erzählerische Fokus nie von den beiden Protagonistinnen ab und steigert seine Spannung kontinuierlich, indem die Dialoge schärfer, die musikalische Untermalung düsterer und die Handlungsführung undurchsichtiger und überspitzter wird. Zudem bewies man mit einem handwerklich perfekten Händchen eindrucksvoll, dass es zur Erschaffung einer nervenzerreißenden Atmosphäre nicht zwangsläufig sichtbarer Gewalt bedarf, sondern vielmehr der Synthese von schlichten Szenerien, einer überaus verschlungenen Kameraarbeit und dem satirischen Spiel zweier, ideal besetzter Ikonen. Einziger minimaler Kritikpunkt ist die nicht ganz unbeträchtliche Lauflänge, dafür jedoch entschädigen vor allem die durchgehend delikaten, symbolistischen Wortwechsel und die brillante Schlussphase. Wenngleich dies den ein- oder anderen schockieren mag, zählt die in Summe zehnfach für den Oscar vorgeschlagene Bette Davis nicht zu meinen favorisierten Darstellerinnen, da sie mir speziell für sensible Rollentypen einfach zu markant war, dennoch muss ich sagen, dass mich diese karikatureske Darbietung tief beeindruckt hat. Geschminkt wie eine transsexuelle Hexe, liefert sie nicht nur eine brillante Performance mit dem vielleicht bitterbösesten Lachen der Filmgeschichte, sondern auch aus meiner Sicht die stärkste Leistung ihrer gesamten Laufbahn, denn es grenzt an Unglaublichkeit, in welch beängstigender Dimension sie sich in die Manie der Figur, die in einer juvenilen Traumwelt lebt, eingefunden hat. Overacting wurde hierin eins der wenigen Male intentioniert als tragendes Stilmittel eingesetzt und ich bin mir relativ sicher, dass Davis bei der Oscarverleihung von 1963 nur knapp an Anne Bancroft gescheitert sein dürfte. Joan Crawford spielt den humanen Gegenpart demgegenüber sehr subtil und still, fast schon herzzerreißend fragil, jedoch nicht weniger couragiert, weswegen es als bedauerlich erachtet werden muss, dass ihr nicht dieselbe Aufmerksamkeit zuteilwurde, während das Ensemble von vielen überzeugenden Nebendarstellern strotz. Die schwesterliche Kriegsführung mutet für den Zuschauer vielleicht gerade aufgrund des Umstandes, dass sich die Damen in der Realität ebenfalls alles andere als sympathisch gewesen sind und mit ihrem eigenen Älterwerden nicht zurechtkamen, besonders real an.
Von der universellen Botschaft zehrend, dass Geschwisterliebe im Normalfall als etwas überaus Schönes zu erachten ist, schwesterlicher Neid jedoch in einem buchstäblichen Alptraum enden kann und frühe Karrieren selten in psychischer Hinsicht ohne Folgen bleiben, lässt einen diese dichte Produktion auch Stunden nach der jeweiligen Sichtung nicht los. Selbstredend ist und bleibt auch dieses Kammerspiel eine Geschmackssache, dennoch sollte man sich das in meinen Augen im besten Sinne groteske, grenzenlos satirische Psychoduell über zwei im Grunde genommen zutiefst bedauernswerte Geschöpfe zumindest ein Mal unbedingt in der Originalfassung ansehen. Dass der für das Kostümdesign oscargekrönte Film vor allem innerhalb der schwulen Community beinahe Kult erlangt hat, kann ich mir zudem insofern erklären, als dass extravagante Diven mit furienhaften Wesenszügen unter gleichgeschlechtlich liebenden Männern des Öfteren als Ikonen gelten.
Wiegenlied Für Eine Leiche (OT: Hush … Hush, Sweet Charlotte)
Vor mehr als einem halben Jahrhundert erschien die indirekte Fortsetzung von „Was Geschah Wirklich Mit Baby Jane?“, welche insbesondere von Seiten religiöser Kreise als „…von Komplexen, Wahnvorstellungen und Rachegelüsten…“ und „…Anormalitäten reiches Spiel, das nur noch Abscheu hervorruft.“ gebrandmarkt wurde. Allerdings drängte sich mir diesbezüglich die dringende Frage auf, warum diese Beurteilung überhaupt einen negativen Unterton trägt, schließlich haben die Verantwortlichen wahrscheinlich exakt diese psychologisch und inszenatorisch schaurige Wirkung beabsichtigt, worin sogar die größte Stärke des sowohl in Englisch als auch Deutsch ideal betitelten Thrillers liegt.
Zwar wurde das angespannte, familiäre Grundkonzept inmitten eines abgelegenen, ästhetisch ausstaffierten Anwesens, das stetig zum Gruselkabinett mutiert, beibehalten, dennoch hat man die Story durch einige inhaltliche und formelle Charakteristika erweitert, die hervorragend ineinandergreifen. Während in „Baby Jane“ Rache und Neid die tragenden Beweggründe diabolischen Handelns darstellen, sind es im konkreten Fall pekuniäre Gier und Betrug, überdies wurde die Dramaturgie aufgrund der Einwebung einer höheren Anzahl von Nebencharakteren noch nervenzerreißender ausgeschmückt, was die ideale Vorlage für eine Peripetie bildete, mit der sicherlich nicht nur ich am Anfang nie und nimmer gerechnet hätte. Im steten Wechsel von Licht und Schatten, unterstützt von perfekt passender Musik sowie gekonntem Ton und Schnitt fällt die Handlung noch undurchsichtiger aus und sorgt nahezu durchgängig für einen ungeahnten Nervenkitzel. Um die Besetzung von Bette Davis‘ Gegenpart ranken sich zahlreiche Gerüchte und Anekdoten, beispielsweise ist bis heute strittig, ob die ursprünglich erneut vorgesehene Joan Crawford tatsächlich krankheitsbedingt aus der Produktion ausschied oder ihre Feindschaft zu Davis den entscheidenden Grund bildete. Auch die Neubesetzung gestaltete sich schwierig, denn Hepburn sagte aufgrund anderer Verpflichtungen ab, während Vivien Leigh die Rolle der Miriam mit der Aussage, Bette Davis Visage um sechs Uhr morgens nicht ertragen zu können, ausgeschlagen haben soll. Schlussendlich erhielt Olivia de Havilland den Zuschlag, wofür man retrospektiv betrachtet äußerst dankbar sein kann, da die inzwischen 99 Jahre alte, zweifache Oscargewinnerin in diesem ungewohnt erbarmungslosen, eisigen Rollentypus einmal eine ganz andere Facette ihres Könnens offenbaren konnte. Bette Davis offerierte, diesmal in Funktion der Unterdrückten, eine erneut tadellose, wenn auch nicht derart atemberaubende Vorstellung wie zwei Jahre, dennoch wurde die beiderseitige Antagonie sehr authentisch dargestellt. Szenenstehlend agierte dagegen Agnes Moorehead in einem herrlich ausscherenden Kurzauftritt, der ihr die vierte und letzte, leider erneut unrentable Oscarnominierung einbrachte, während Mary Astor, Joseph Cotten und der junge Bruce Dern ebenfalls wertvolle Impulse setzen konnten.
Demzufolge entstand durch Beigabe einiger neuer Zutaten ein noch horror- und suspenseorientierter und in dramaturgischer Hinsicht von intelligent arrangierten Brüchen lebender Schocker, der die Masse der heutigen Horrorstreifen durch Scharfsinn, Geschlossenheit und schauspielerische Qualität alt aussehen lassen dürfte. Das in noch äußerst konservativen Zeiten vor einer unerwartet expliziten Gewaltdarstellung nicht zurückschreckende Verwirrspiel erscheint nahezu makellos, reicht aber an das zuvor analysierte Vorbild meiner Meinung nach nicht ganz heran, weil Aldrich beinahe eine Kleinigkeit zu viel gewollt hat. Nichtdestotrotz stellt diese rein subjektive Präferenz einmal mehr Kritik auf äußerst hohem Niveau dar.