Manchester By The Sea

Langsam, aber sicher steigt nicht nur im Hinblick auf die Verkündung der diesjährigen Oscarnominierungen in gerade einmal zwei Tagen der Ruhepuls tausender Filmfans, sondern auch die Zahl der zum Favoritenkreis zählenden Werke, welche auch hierzulande ihren Weg endlich auf die Kinoleinwände finden. Neben „La La Land“, „Arrival“ und „Moonlight“ dominierte auch das Drama „Manchester By The Sea“ in den vergangenen Monaten unzählige Preisverleihungen – und diesen Status hat es sich keinesfalls von ungefähr erarbeitet, wie ich heute erfahren durfte. Kenneth Lonergans bemerkenswerter Weise erst dritte und noch dazu auf keiner literarischen Vorlage basierende Regiearbeit dokumentiert die Geschichte des gebrochenen Heimkehrers Lee, der nach dem unerwarteten Tod eines Familienmitgliedes unversehens zum Vormund seines Neffen wird und stellt in Summe einen dieser viel zu selten gesehenen, herzzerreißenden Momente ohne den Anflug von Prätentiösität dar, nach dessen Sichtung man sich um Aufrechterhaltung der eigenen Fassung bemühen muss…

„Manchester By The Sea“ kann trotz seiner ausufernden Länge als brillante Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe betitelt werden, erdreistet sich im Gegenzug allerdings nicht, eine universelle Milieustudie sein zu wollen und forciert stattdessen tragische Einzelschicksale, die in keiner einzigen Sekunde um die Sympathie der Zuschauer kämpfen – und genau dies bewirkt die melancholische, zwischenmenschliche Authentizität und eine erstaunliche psychologische Dichte. Dazu perfekt passend, strahlt insbesondere der namensgebende 5000-Seelenort an der Küste Neuenglands eine eigenartige, kühle Ruhe aus und steht in metaphorischer Form für die unausweichliche Aufarbeitung der schmerzhaften Vergangenheit und Gegenwart mehrerer Individuen. Neben einem in nahezu jeder Facette ausgefeilten, komplexen Drehbuch voller ideal platzierter Rückblenden und Wortwechsel, die einem vermehrt direkt in die Magengrube treffen, in anderen Augenblicken jedoch tröstend anmuten, gelang es durchgängig, einen gedankenanregenden Minimalismus als tragendes Stilmittel einzusetzen. Sukzessiv-brillant geschnitten und mit einem Gänsehaut erregenden, von wiederkehrenden, vokalorchestralen Stücken durchzogenen Soundtrack unterlegt, der absurder Weise von Seiten der Academy disqualifiziert worden ist, weiß auch die handwerkliche Dimension zu überzeugen und untermalt die Tragweite des Gesehenen. Der inzwischen Vollbart tragende Hauptdarsteller Casey Affleck wird zum Herzstück der Tragik und liefert eine bombastische, reduzierte und dennoch couragierte Leistung, die in der diesjährigen Saison ihresgleichen sucht und von der spürbar nach außen transportierten, inneren Zerrissenheit des in Mitleidenschaft gezogenen Charakters bestimmt wird. Aufgrund ebendieser Meisterleistung darf man gewissermaßen dankbar sein, dass Matt Damon die Rolle wegen der Verpflichtung als Produzent abgelehnt hat. Des Weiteren beweist die bisher dreifach oscarnominierte, hierin hochsensibel agierende Michelle Williams in Folge einer leider völlig ignorierten Darbietung in „Suite Française“ mit Nachdruck, dass nicht nur eine vierte Nennung fällig ist, sondern möglicherweise sogar der Gewinn der ersten Statuette bevorsteht. Zuletzt tragen auch das Nachwuchstalent Lucas Hedges sowie Gretchen Mol in der Rolle der Mutter mit nuancierten Darbietungen zu der enormen Geschlossenheit des durchschlagskräftigen Ensembles bei.

Das, was die „Variety“ kürzlich und äußerst treffend als „…außergewöhnlichen Strudel aus Liebe, Wut, Zartheit und trockenem Humor“ bezeichnet, ist in letzter Instanz eine überaus nachklingende, aufrichtige und tiefschürfende Perle des Independent-Kinos, welche als stiller Appell gegen Verdrängung und für den familiären Zusammenhalt innerhalb einer Gesellschaft, die sich zunehmend für die eigenen zukünftigen Belange interessiert, zu fungieren imstande ist. Nach „Nocturnal Animals“ stellt „Manchester By The Sea“ bis dato mein persönliches Highlight der Saison dar, darf sich nun berechtigte Hoffnungen auf multiple Oscarsiege machen und kann beziehungsweise sollte seit dieser Woche in ausgewählten, nationalen Lichtspielhäusern bewundert werden.

USA 2016 – 138 Minuten
Regie: Kenneth Lonergan
Genre: Familiendrama
Darsteller: Casey Affleck, Lucas Hedges, Michelle Williams, Kyle Chandler, Gretchen Mol, Matthew Broderick, Kara Hayward, Heather Burns, C.J. Wilson, Erica McDermott
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