1917

© Universal Pictures

Zum ersten Mal in der 92-jährigen (!) Oscargeschichte gelang es ganzen vier Filmen, eine zweistellige Anzahl an Nominierungen zu generieren. Neben „Joker“, „Once Upon A Time … In Hollywood“ und „The Irishman“ darf sich auch Sam Mendes‘ inzwischen achte Arbeit als Regisseur namens „1917“ berechtigte Hoffnungen auf den ein oder anderen Goldjungen machen und sahnte bereits zwei Golden Globes ab. Im Hinblick auf die Verarbeitung für die Leinwand stehen sich der Erste und Zweite Weltkrieg quantitativ in auffallendem Missverhältnis gegenüber, dennoch näherte sich Mendes der eigentlichen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts mit zehn Millionen Todesopfern nicht nur mit enormem Gespür für das Schicksal blutjunger Soldaten, sondern trommelte ein Team zusammen, welches das Genre in vielen Belangen auf eine neue handwerklich-visuelle Ebene beförderte. In dieser Woche startete „1917“ offiziell in den Kinos und nicht nur Fans historischer Dramen sollten die Gelegenheit nutzen, ein Werk zu erleben, in dem die evozierte Atmosphäre vielfach für sich spricht.

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„1917“ wählt sowohl in Bezug auf ein reduziertes Personengefüge als auch auf die erzählte Zeit von lediglich 24 Stunden einen zutiefst selektiven Rahmen und streift anhand eines Geheimauftrages die „Operation Alberich“, welche die entscheidende Phase des Konflikts an der deutschen Westfront einläuten sollte. Erfreulicherweise ist das Werk im Gegensatz zu anderen Filmen, die sich unmittelbar auf dem Schlachtfeld abspielen, nicht zu lang geraten und wagte überdies ein mutiges Experiment. Realisiert im One-Shot-Verfahren, das mit einer Ausnahme ohne einen einzigen wahrnehmbaren Schnitt auskommt, setzt die ungewohnte Technik ein hohes Maß an Anspannung und Kontinuität in Gang und sorgt für einen ungeahnten Involvierungseffekt. Selten zuvor durfte man eine realistischere Darstellung einer Frontlinie, dem so genannten Stichgraben, zu Gesicht bekommen und oberviert mit atemloser Spannung. Auch die Fototechnik wirkt dermaßen perfektionistisch, dass wohl kein Weg am zweiten Oscar für Roger Deakins in Folge vorbeiführen dürfte. Mehrfach verspürt der Zuschauer wohl große Verwunderung darüber, dass es trotz konstanter Nahaufnahmen niemals zur Kollisionen zwischen der Kamera sowie den Kulissen und Darstellern kam. Das Gesehene lebt entscheidend von der Synthese unterschiedlicher Kunststile und vereinigt naturalistische, expressionistische und symbolistische Tendenzen, in denen es vielfach keiner Dialoge bedarf. Nichtdestotrotz entspinnen sich inmitten des bedrohlichen Kriegsszenarios auch Diskurse über den Sinn von Kriegsorden und die aufgezwungene Feindschaft zwischen den Alliierten und den als „Hunnen“ bezeichneten, kaiserlichen Truppen. Dass die Handlung nicht komplett frei von Pathos ist und der narrative Fokus an wenigen Stellen einen Hauch zu eng anmutet, stellt im Prinzip die einzige Schwachstelle des Zweistünders dar, darüber hinaus erscheint die FSK-Freigabe ab 12 Jahren (beziehungsweise ab 6 Jahren in Begleitung der Eltern) entwicklungspsychologisch als fragwürdig. Demgegenüber sind es vor allem die herausragenden Kompositionen von Thomas Newman, die „1917“ in den entscheidenden Momenten zu einer Sensation avancieren lassen. Sollte er auch im Zuge seiner vierzehnten Oscarnennung für die „Beste Filmmusik“ unprämiert bleiben, wird er sich wohl enttäuscht zur Ruhe setzen müssen. Speziell die bewegendste Szene, ein Gänsehautmoment mit seelentröstender Qualität inmitten des verbrannten Niemandslandes, hängt direkt mit der Synthese von Bild und Musik zusammen. Letztlich erwies sich auch die Rollenbesetzung als exzellente Entscheidung, denn George MacKay wird zum Dreh- und Angelpunkt, dem man sich nicht entziehen kann. Er durchläuft einen immensen Reifungsprozess und man sieht ihm vermehrt die nackte Todesangst in den Augen an, während auch die Nebendarsteller überzeugende Leistungen offerieren.

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Insgesamt ist „1917“ ein eindringliches Plädoyer gegen die Unmenschlichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen, dessen minimale Makel von kolossaler Bildgewalt wettgemacht werden. Mit der Inszenierung gingen die Beteiligten ein besonderes Risiko ein und erreichten damit ausgesprochen viel. Dennoch brilliert Mendes nach zwei Ausflügen in die Welt von James Bond bei Weitem nicht nur dank einer bis ins kleinste Detail durchdachten Wirkungsästhetik, sondern liefert ein Drama, das in dynamischen Zeiten wie unseren, ganze 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, langfristig im Gedächtnis zu bleiben vermag.

USA / UK 2019 – 119 Minuten
Regie: Sam Mendes
Genre: Historiendrama / Kriegsfilm
Darsteller: George MacKay, Dean-Charles Chapman, Gerran Howell, Michael Jibson, Justin Edwards, Benedict Cumberbatch, Andrew Scott, Richard Madden, Colin Firth, Adrian Scarborough, Mark Strong, Claire Duburcq
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