Neues aus der Welt (OT: News of the World)

© Netflix

Nach dem annehmbaren Science-Fiction-Drama „The Midnight Sky“ stand am heutigen Tag ein Vertreter einer Sparte auf der persönlichen Watchlist, das bisher selten für Begeisterungsstürme sorgte. Unabhängig von den unbestreitbaren Kollateralschäden des Lockdowns im Hinblick auf filmische Sehgewohnheiten war es vor allem die Golden-Globe-Nominierung der erst zwölfjährigen Berlinerin Helena Zengel, die zu einer sonntäglichen Inaugenscheinnahme von „Neues aus der Welt“ bewogen hat. Trotz geringer Erwartungen entpuppt sich das Westerndrama selbst aus den Augen eines Genre-Laien als positive Überraschung und als unaufdringliche, handwerklich vortreffliche Parabel über Entfremdung und den scheinbar zeitlosen, wiederkehrenden Verfall von Menschlichkeit und die Bedeutung von Empathie, insbesondere im Spiegel dynamischer Zeiten.

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Erfreulicherweise verzichtet der inzwischen elfte Film von Paul Greengrass weitestgehend auf stereotype Mechanismen aus dem Baukasten und ist letztlich eher als historische Sozialstudie zu klassifizieren. „Neues aus der Welt“ bebildert das Jahr 1870 und wirft inmitten des in die Knie gezwungenen Südens einen differenzierten Blick auf die weitreichenden Folgen des Sezessionskrieges. Nicht nur in den Momenten, in denen der Kriegsveteran unter renitentem Raunen der Zuhörer „Neues aus der Politik“ verkündet und sich Infektionskrankheiten in den Südstaaten wie ein Flächenbrand ausbreiten, werden Parallelen zur aktuellen Lage überdeutlich. Außer Frage steht, dass die entschleunigende Erzählweise ein hohes Maß an Geduld und Einlassungswillen einfordert und nicht jedermanns Sache sein dürfte, aber gänzlich auf die ungleiche Beziehung zwischen dem friedfertigen Captain und dem stummen, verwaisten Wildfang namens Johanna ausgerichtet ist, die in ein überaus starkes Finale mündet. Zwar bestehen gelegentliche Reserven im Hinblick auf die allzu sparsame Dialoggestaltung und auch der schlussendliche Ausgang der Handlung mag nicht gänzlich unvorhersehbar sein, dennoch entschädigt dafür die Inszenierung, die wie ein Delta von altmodischer Stilistik und überaus modernen Einflüssen anmutet. Dass eine Vielzahl der zeittypischen Kulissen, Tierherden und Sandstürme mittels CGI-Effekten hinzugefügt worden ist, lässt sich nicht einmal dann erkennen, wenn man dies vorab weiß. Zudem darf sich James Newton Howard, bis dato acht Mal für den Oscar nominiert – zuletzt 2009, dank seiner im Ohr bleibenden, abwechslungsreichen Kompositionen große Hoffnungen auf eine weitere Nennung und vielleicht sogar den ersten Sieg einräumen. Auch in darstellerischer Hinsicht lässt das gebotene einen runden Eindruck, was vor allem an Tom Hanks liegt, der sich jahrelang unter Wert verkaufte, in dieser Rolle jedoch endlich einmal wieder aufgeht. Die in dem Drama „Systemsprenger“ bekannt gewordene Helena Zengel liefert ebenfalls ein darstellerisches Ausrufezeichen und führt vor in einer weitestgehend wortlosen Rolle vor Augen, wie wichtig Mimik und Gestik auf filmischer Ebene sind. Eine unschätzbare Sensation wäre es, wenn die Nachwuchsschauspielerin tatsächlich für den Oscar nominiert werden sollte, denn nach Marlene Dietrich und Luise Rainer wäre sie die erst dritte Deutsche, der diese Ehre zuteilwird – und die Erste seit dem Jahr 1937 (!). Entscheidend ist allerdings die Interaktion der beiden, die trotz Sprachbarrieren mehrfach beeindruckt.

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Seit letztem Mittwoch kann „Neues aus der Welt“ auf Netflix gestreamt werden. Trotz gelegentlich nicht wegzudiskutierender Mankos im Hinblick auf das Drehbuch und des Eindrucks, dass das Gezeigte das Rad vielleicht nicht neu erfindet, sitzt der Zweistünder – und das dürfte für einen soliden Westernfilm sprechen – jedoch fortwährend fest im Sattel und erweist sich sowohl als zielsicher als auch als sehenswert.

USA 2020 – 119 Minuten
Regie: Paul Greengrass
Genre: Drama / Western
Darsteller: Tom Hanks, Helena Zengel, Neil Sandilands, Michael Angelo Covino, Fred Hechinger, Mare Winningham, Ray McKinnon, Elizabeth Marvel, Thomas Francis Murphy, Chukwudi Iwuji
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