Als ich im letzten Jahr davon hörte, dass Timothy Spall bei den Filmfestspielen von Cannes mit dem Darstellerpreis geehrt worden ist, war ich – ohne seine prämierte Darstellung zu kennen – bereits hocherfreut. Schließlich zählt er, den die breite Masse wohl vorrangig durch seine Rolle als Peter Pettigrew in den Harry-Potter-Episoden kennen dürfte, zu den britischen Akteuren, die (ähnlich wie Alan Rickman) seit Ewigkeiten grandiose Arbeit leisten, aber dennoch von Kritikern wie Filmorganisationen konsequent ignoriert wurden. Der bereits für gelungene Dramen wie „Lügen Und Geheimnisse“ und „Vera Drake“ verantwortliche Altmeister Mike Leigh engagierte den markanten Londoner nun als William Turner (1775 – 1851), welcher unter Experten gleichermaßen als Pionier für die impressionistische, romantische und abstrakte Kunst gilt. In erster Linie bildet das Zusammenwirken von Spall und Leigh die Hauptursache für die Entstehung einer überaus speziellen, doch nicht minder sehenswerten Historienproduktion, das auch auf anderen Ebenen zu überzeugen weiß…
Bei seinem Tod hinterließ Joseph Mallord William Turner seiner Nation mehr als 10.000 Gemälde und zeichnete sich durch eine flinke Arbeitsweise und die bildliche Darstellung von Naturmotiven, aber auch ein ausgeprägte Eigenbrötlerei aus, die dazu führte, dass er nach und nach von der höheren Gesellschaft isoliert wird. Geschildert wird in „Mr. Turner“ ein aus unzähligen, losen Mosaiksteinen bestehendes Resümee seines letzten Lebensdrittels. Ob nun alle Details aus der Vita des Genies korrekt sind, vermag ich nicht zu beurteilen, wohl aber, dass die sozial-kulturellen Grundzüge in der Phase des frühviktorianischen Englands und die individuellen Herausforderungen für einen Künstler exzellent widergespiegelt worden sind, was auch der nuancierten Dialogisierung zu schulden ist. Leigh versteht es, sich dem realen Charakter reflektiert und tiefenpsychologisch, gleichsam widersprüchlich zu nähern, ohne aus ihm eine Galionsfigur zu machen – wobei auch scherzhafte und zutiefst ironische Momente nicht auf der Strecke bleiben. Der Dreh in Cornwall und Sussex hätte nicht besser gewählt werden können, denn die Landschaften wirken atemberaubend und ziehen einen mithilfe eines sehr extravaganten Kamerafokus’ von der ersten Sekunde an in ihren Bann. Hinzu kommt eine auffallende, schattierende Farbgestaltung, die sich an der Ästhetik des Malers und an der künstlerischen Grundidee der „Sehnsucht“ orientiert sowie hohe Schauwerte, was die detailreichen Kostüme, Szenerien und Masken anbelangt. Auch Leighs Stammkomponist hat hier wirklich Tolles geleistet, denn die reduziert angelegten Klänge sind abwechslungsreich, stellenweise magischen, dann wieder zeittypischen Naturells und nehmen stets Bezug auf die jeweilige Gemütslage des Protagonisten. Bemängeln könnte man zweifelsohne, dass ebendiesem gewaltigen Ästhetizismus, der hoffentlich einige Oscarnominierungen ergattern wird, eine relativ geringe Spannungsarmut gegenübersteht und, dass dem Zuschauer lediglich Ansätze zur Identifikation offeriert werden und das Drama etwas zu lang geraten ist.
Wie die Kritiker prophezeiten, stellt dies für Timothy Spall die Rolle seines Lebens dar, denn ich kann mir in der Tat keinen einzigen Schauspieler vorstellen, der den schaffensbesessenen, mürrischen, exzentrischen und in Liebesdingen unversierten Maler besser hätte verkörpern können. Insbesondere die auffallend melancholischen Wesenszüge kommen durch sein empfindsames, virtuoses und authentisches Agieren grandios zum Ausdruck. Häufig war dafür nicht mehr notwendig, als ein obskurer Blick – und genau das verstehe ich unter einer gelebten Performance. Dass er weder für den Golden Globe noch für den BAFTA nominiert worden ist, gleicht daher aus meiner Sicht einem unverständlichen Skandal. Zugegebenermaßen kann ich über die Qualität der Darstellungen der Kollegen Gyllenhaal und Cumberbatch noch keine Aussage treffen, aber es scheint mir äußerst schwer vorstellbar, dass sie Besseres geleistet haben, weswegen sich Spall in meiner Bestenliste aktuell den ersten Platz mit Eddie Redmayne teilt. Es verstehe, wer will, warum die Briten Ralph Fiennes vorgezogen haben… An der Seite des alles bestimmenden Hauptdarstellers glänzen vor allem die Damen Marion Bailey und Lesley Manville in ihren Rollen.
Jene, die Action, Kurzweile oder breit angelegte Handlungsumschwünge präferieren, werden durch „Mr. Turner“ freilich nicht auf ihre Kosten kommen. Doch genau in diesem Zusammenhang merkt man förmlich, dass Leigh dies überhaupt nicht beabsichtigt hat und er stattdessen einen stilsicheren Arthaus-Film geschaffen hat, der durch die One-Man-Show von Timothy Spall langfristig im Kopf bleibt. Es ist ein nahezu fehlerfreies Porträt, das – genau wie William Turner selbst – von seinem unkonventionellen, einsamen Wesen lebt und das man sich unbedingt (!) in der Originalfassung zu Gemüte führen sollte.