Carol

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„Einer der besten Filme des Jahres, packend und mit bezwingender Schönheit.“ So urteilte beispielsweise der „Spiegel“ nach der Premiere vor wenigen Tagen über den neuesten Film von Todd Haynes, der bereits vor mehr als einer Dekade für den leider viel zu wenig gewürdigten „Dem Himmel So Fern“ verantwortlich war. Zugebenermaßen gehe ich mit den meisten Zeitungskritikern nicht allzu oft konform, im konkreten Falle jedoch umso mehr, weswegen der Favoritenstatus von „Carol“ im Zuge der anstehenden „Golden-Globe“-Verleihung auch gerechtfertigt erscheint. Ganze 63 Jahre sollte es dauern, bis in Gestalt von „Salz Und Sein Preis“ eins der bedeutendsten und couragiertesten Werke der bekannten Autorin Patricia Highsmith über eine teilweise autobiographische, lesbische Liebesgeschichte in den 50ern seinen Weg erstmals auf die Leinwand gefunden hat und was Haynes der in der konservativen McCarthy-Ära entstandenen Vorlage entlockt hat, ist gleichermaßen beeindruckend und bittersüß wie unverfälscht.

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Innerhalb von gerade einmal fünf Wochen gedreht, bewegt sich das Werk nahe am makellosen Gesamtkunstwerk. Mit poetischer Kraft, geduldiger Ruhe und ohne jedweden Anflug von Pathetik inszeniert, wurde der gebotene, kontextuelle Realismus nie aus den Augen verloren und die seinerzeit eigentlich undenkbare Liebesgeschichte mit einem Fingerspitzengefühl für psychologische Feinheiten ausgestattet, der trotz seiner unspektakulären Wirkung selbst Hartgesottene im Kern erschüttern dürfte. „Carol“ schildert nicht nur den häufig inflationär verwendeten Begriff der „Liebe auf den ersten Blick“, der man sich nicht erwehren kann, sondern auch die tiefgreifenden Konsequenzen für sie beiden Beteiligten in ausgewogenem Maße. Insbesondere wenn man als Zuschauer die Handlung mit eigenen Erfahrungen in Relation setzen kann, ergeben sich schmerzhafte, aber ebenso hoffnungsvolle Parallelen, denn der Weg zur Liebe ist wohl niemals ein geradliniger oder gänzlich widerstandslos. Analog zum Roman verlaufen die Personenentwicklungen der beiden Frauen exakt entgegengesetzt und die grundlegende Intention hängt weniger mit der Verurteilung von Homophobie zusammen als mit der Schwierigkeit der Selbstemanzipation, was den primären Reiz des nuancierten und grandios dialogisierten, sorgfältigen und symbolistischen Drehbuchs bildet. Aufgrund ebendieser mühelos erscheinenden Kreation von Affekten bedarf es keiner Effekthascherei oder überzogenen Tragik, um am Schicksal von Carol und Therese teilhaben zu wollen. Es kommt zweifellos keiner Übertreibung gleich, dass „Carol“ neben betörenden, aber nicht zu jochpolierten Sets und zeittypischen Kostümen, die träumerisch von der Kamera eingefangen wurden sowie niemals zufällig gewählten Stilmitteln den vielleicht gelungensten Soundtrack der letzten Jahre bietet, der sich ideenreich an den genialen Glass’schen Klängen in „The Hours“ orientiert, die Seele streichelt und die Atmosphäre zu einer geschlossenen Einheit verbindet.

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Abseits des Romans war die zweifache Oscarpreisträgerin Cate Blanchett der hauptsächliche Grund, warum ich mich lange zuvor auf den Kinostart gefreut hatte, zu meiner Überraschung wurde allerdings ihre Leinwandpartnerin Rooney Mara zur Ursache vieler Tränen, denn mit einer derart fragilen Performance hätte ich wahrlich nicht gerechnet. Obwohl die Gefahr zum Overacting gegeben war, überzeugt besonders Blanchett durch eine erhabene Kontrolle über ihr facettenreiches Spiel und festigt ihren Ruf als wandelbarste Schauspielerin unserer Zeit. Die beiden substantiellen Rollen hätten – so mein unweigerlicher Gedanke – vor Jahrzehnten auch von Greta Garbo und Audrey Hepburn übernommen werden können und die zwei Damen sind, für die Geschichte besonders essentiell, nahezu auf Augenhöhe anzusiedeln und sollten daher trotz aller Vorbehalte beide als Hauptdarstellerinnen ins Rennen um die Oscarstatuette gehen. Kyle Chandler und Sarah Paulson, welche schon in „12 Years A Slave“ aus einer kleinen Rolle erstaunlich viel extrahieren konnte, zeigten des Weiteren ebenfalls hervorragende Leistungen inmitten eines durch und durch auf die zwei Protgonistinnen zugeschnittenen Ensembles.

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Äußerst bedauerlich mutet vor allem der Umstand an, dass „Carol“ hierzulande trotz der darstellerischen Zugpferde nur für begrenzte Zeit in einer erlesenen Auswahl von (Programm-)Kinos läuft beziehungsweise lief und der Allgemeinheit somit die Möglichkeit verwehrt wird, diesen stillen, behutsamen und seelenvollen Film überhaupt zu Gesicht zu bekommen, der einen verborgenen Appell an alle Zuschauer enthält, seien diese nun ebenfalls gleichgeschlechtlich liebend oder nicht. Obschon ich viele der übrigen Kandidaten noch nicht kenne, dürfte Haynes intensives Porträt bei der Oscarverleihung zu den meistnominierten Filmen avancieren – und das mit Recht! So magisch kann und sollte Kino häufiger sein!

USA 2015 - 118 Minuten Regie: Todd Haynes Genre: Romanze / Drama / Literaturverfilmung Darsteller: Cate Blanchett, Rooney Mara, Sarah Paulson, Kyle Chandler, Jake Lacy, Cory Michael Smith, John Magaro, Carrie Brownstein, Kevin Crowley
USA 2015 – 118 Minuten
Regie: Todd Haynes
Genre: Romanze / Drama / Literaturverfilmung
Darsteller: Cate Blanchett, Rooney Mara, Sarah Paulson, Kyle Chandler, Jake Lacy, Cory Michael Smith, John Magaro, Carrie Brownstein, Kevin Crowley
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