„Gandhi“ und „Slumdog Millionär“, beide jeweils mit acht (!) Oscars ausgezeichnet, dürften wohl die Werke darstellen, welche die Mehrheit zuallererst assoziieren dürfte, wenn man auf filmthematischer Ebene vom zweitbevölkerungsreichsten Land der Erde spricht. Nun jedoch könnte sich in Gestalt von „Lion: Der Lange Weg Nach Hause“ eine weitere Filmproduktion zu den Genannten hinzugesellen, die schätzungsweise nur die wenigsten im Vorfeld der Awardsaison auf dem gedanklichen Nominierungszettel hatten, jedoch letzten Endes in sechsfacher Ausführung von Seiten der Academy bedacht wurde. Das auf wahren Ereignissen rund basierende Drama um einen jungen Inder, der seiner Heimat schicksalhaft entzogen, von einer Familie aus Downunder adoptiert wird und sich schließlich zwei Jahrzehnte später auf die Suche nach den eigenen Wurzeln begibt, hebt sich nicht nur in angenehmer Fasson von der nach Spektakularität strebenden Konkurrenz ab, sondern tritt vor allem den Beweis an, dass die schönsten und inspirierendsten Geschichten das Leben selbst zu schreiben imstande ist…
Als besonders beeindruckend erweist sich die überaus feinsinnige, beinahe routiniert anmutende Regieführung des Newcomers Garth Davis, der im Zuge seines Kinodebüts sowohl auf eine geduldige Erzählweise, die Ausformung zwischenmenschlicher Motive und eine sehr lebhafte Bildsprache als auch auf ein einträchtiges Schauspielensemble setzt. Aufgrund der fast schon minimalistischen, unaufgeregten Dramaturgie in Form einer klassischen inhaltlichen Zweiteilung und des Verzichts auf bruchstückhafte Zeitsprünge kann sich vor allem die tiefmelancholische Geschichte als solche entfalten, ohne sich dabei in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Zwar gelingt es nicht allumfassend, genreübliche, psychologische Redundanzen zu vermeiden, dennoch befördert insbesondere die innere Ruhe des Drehbuchs, dass man sich als Zuschauer interessiert auf die unbeabsichtigte Reise des kleinen Saroo begibt und sich im zweiten Teil unmittelbar an der Suche des Hauptcharakters nach seiner Identität beteiligen möchte. In diesem Zusammenhang versprüht die einfühlsame Szene, in der Saroo zum ersten Mal mit den Annehmlichkeiten der Zivilisation konfrontiert wird, eine ganz eigene Magie. Des Weiteren lassen zwei inszenatorische Elemente den Zweistünder zu einem wahrgewordenen Erlebnis für die Sinnesorgane avancieren, denn die meisterhafte Kameraführung von Greig Fraser und die geradezu unvergleichliche, musikalische Untermalung voll von beflügelnden Streicher- und Klavierklängen, die im Einklang miteinander nicht nur Sehnsucht und Wehmut erlebbar werden lassen, sondern auch viel von dem kulturellen Koloriten Indiens und auch Tasmaniens widerspiegeln. Das hohe Identifikationspotential des Dargebotenen resultiert natürlich in nicht unbedeutendem Maße mit den sehenswerten Schauspielleistungen zusammen. Nicht nur die geradezu herzerweichende Darbietung des zum Drehzeitpunkt erst sechsjährigen Sunny Pawar vermag langfristig im Gedächtnis zu bleiben, sondern auch der völlig zu Recht als Nebendarsteller kategorisierte Dev Patel, der mit wenigen Mitteln eine authentische Wirkung erzeugt und vor allem im Zusammenspiel mit Rooney Mara und Nicole Kidman vollends harmoniert. Letztere wiederum durfte man ungewohnter Weise in einer verhältnismäßig schlicht gehaltenen Nebenrolle bewundern, die ihre beste Darbietung seit „Rabbit Hole“ offeriert und sich als herzensgute Adoptivmutter in den entscheidenden Sequenzen durch ein enormes, zu Tränen bewegendes Einfühlungsvermögen auszeichnet.
Trotz minimaler, im Gesamtkontext allerdings verzeihbarer Mankos und einer gezielten Ausrichtung auf die menschliche Tränendrüse berührt „Lion“ wohl nur diejenigen in keinster Weise, die das Herz nicht am rechten Fleck tragen oder die Freude am Leben verloren haben. Aus diesem Grund darf man Davis‘ substantielles Erstlingswerk mit Fug und Recht als den gefühlvollsten Kandidaten unter den acht Best-Picture-Nominierten erachten, der selbst in modernsten, dynamischsten Zeiten eine universelle Botschaft zutage fördert und seit dieser Woche auch endlich in den deutschen Lichtspielhäusern begutachtet werden kann. Mein Gefühl sagt mir deswegen, dass „Lion“ in der bevorstehenden Oscarnacht nicht völlig leer ausgehen wird…