
„Bilde ich mir das bloß ein oder wird die Welt immer verrückter?“ Dieser Ausspruch, der in erschreckender Weise auf die aktuellen Ereignisse in der Welt übertragbar ist, bildet den Ausgangspunkt für Todd Philipps 13. Leinwandproduktion und gerät rasch zur rhetorischen Frage. Dass der Solo-Film über einen der berüchtigtsten Schurken der Filmgeschichte im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig den Hauptpreis erringen konnte, überrascht in hohem Maß, denn „Joker“ zählt definitiv nicht in die Sparte massenkompatibler Abendunterhaltung. Kaltschnäuzig inszeniert, stellt der Thriller das bis dato aufwühlendste, unbequemste Werk der aktuellen Saison dar und dürfte polarisieren wie kein anderer. Wer es wagt, sich vollends auf das zweistündige Porträt einzulassen, erhält nicht zuletzt eine düstere, tiefenpsychologische Studie einer zerschmetterten Seele, die in hohem Maße nachwirkt.

Gotham City, 1981: Dem altbekannten Setting setzt Philipps eine andere Perspektive entgegen und skizziert den Weg des Teilzeit-Clowns Arthur Fleck, der mit seiner Mutter in einem verwahrlosten Apartment haust und davon träumt, als Stand-Up-Comedian Erfolg zu haben. Der untrennbar vermischte Sud aus Enttäuschung, Psychose und Rache brodelt durchgängig und entfaltet dabei rasch seine Wirkung, mutet aber dank notwendiger Ruhemomente nicht überhastet an. Der Fokus liegt durchgängig auf der Frage, inwiefern ein Täter als Opfer seiner sozialen Umstände angesehen werden kann, wobei der Regisseur sporadisch die Grenzen zwischen Schockwirkung und Perversion überschreitet. Nichtdestotrotz erhebt das Gebotene selbst keinen glorifizierenden Anspruch und es obliegt der Reife des Zuschauers, dies zu erkennen, denn viele Handlungsmomente pendeln elegant zwischen Wahrheit und Einbildung. Die von einer, meisterhaften voyeuristischen Kameraarbeit eingefangenen Bilder sprechen häufig für sich und werden von den meisterhaften Klängen des Isländers Hildur Guðnadóttir auf eine andere Ebene befördert. Sich mit der Darbietung des vor elf Jahre verstorbenen Heath Ledger zu messen, war alles andere als ein leichtes Unterfangen. Dennoch gelingt es Joaquin Phoenix, der 25 Kilogramm abnahm, die Rolle vollständig zu seiner eigenen zu machen und etwas zu erschaffen, das über klassisches Schauspiel hinausgeht. Seine schrittweise, herausfordernde Transformation ist sowohl physisch als auch psychisch dermaßen angsteinflößend, dass er vielfach Fluchtinstinkte hervorrufen dürfte. Die fesselnde One-Man-Show wird ferner durch die Interaktion mit Frances Conroy und Zazie Beetz enorm aufgewertet, lediglich Robert de Niro bleibt diesmal ungewohnt blass.

Insgesamt stellt „Joker“ ein handwerklich ausgereiftes Werk voller Mut, Konsequenz und Drastik dar, über das man vorab möglichst wenig wissen sollte. Der Vorwurf vieler Kritiker, dass die Verfilmung gewaltverherrlichende Tendenzen befördern könnte, ist sicherlich nicht komplett von der Hand zu weisen, jedoch nur dann, wenn der Sehende von ebendieser Zielstellung voreingenommen ist. Nicht nur dank des überragenden Hauptdarstellers geht die Spartenmixtur über handelsübliche Blockbuster weit hinaus und regt überdies notwendige Diskurse an. Seit Donnerstag kann „Joker“ auch hierzulande einer Sichtung unterzogen werden.

Regie: Todd Phillips
Genre: Psychotriller / Comicverfilmung
Darsteller: Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Zazie Beetz, Marc Maron, Brett Cullen, Frances Conroy, Josh Pais, Brian Tyree Henry, Douglas Hodge, Dante Pereira-Olson, Bill Camp, Shea Whigham, Justin Theroux