Nur noch zwei Wochen verbleiben, bis in Los Angeles zum mittlerweile 95. Mal der begehrteste Filmpreis der Welt verliehen wird. Die heute unter die Lupe genommenen Werke – allesamt Sichtungen des letzten Monats, erhielten in Summe sage und schreibe 18 Oscarnominierungen, zwei von ihnen sogar in der Königskategorie „Bester Film“. Entgegen meiner Gewohnheit orientiere ich mich für die subjektive Beurteilung diesmal an der Devise: „In der Kürze liegt die Würze.“
Babylon – Rausch der Ekstase (OT: Babylon)
Sechs Jahre ist es inzwischen her, seit Damien Chazelle 32-jährig als bis dato jüngste Person der Geschichte für „La La Land“ mit dem Regie-Oscar ausgezeichnet worden ist. Vor Kurzem erschien sein inzwischen fünfter Film in den hiesigen Kinos, in dem er sich anfangs auf das Hollywood der 1920er bis hin zum Übergang von Stumm- auf Tonfilme konzentriert und die Goldene Ära im Hinblick auf die Schauwerte vortrefflich wiederaufleben lässt. Bedauerlicherweise kann der Inhalt der pompösen Inszenierung nur sporadisch standhalten und auch wiederkehrende, schwarzhumorige Einschübe wissen hinsichtlich ihrer Wirkung und Aussagekraft nicht immer so recht zu überzeugen. Die Laufzeit von weit mehr als drei Stunden grenzt phasenweise an Überforderung und oftmals wäre weniger schlichtweg mehr gewesen. Als unbestreitbare Vorzüge sind neben einer energetisch agierenden Margot Robbie das opulente Szenenbild sowie der herausragende, jazzige Soundtrack von Justin Hurwitz zu nennen, der im Ohr bleibt und am 12. März wohl ausgezeichnet werden dürfte. Summa summarum kommt „Babylon“, der mindestens eine Stunde zu lang geraten ist, jedoch nicht über einen durchschnittliches Filmerlebnis hinaus, was auch darin liegt, dass einen viele der unzähligen Charaktere sowie deren Fortkommen nicht weder sonderlich tangiert noch involviert. Dass die Genremixtur seine immensen Produktionskosten bis dato nicht wieder einspielen konnte, verwundert daher nicht in hohem Maße.
Die Aussprache (OT: Women Talking)
In Bezug auf die Aufmachung wie aus der Zeit gefallen, mutet eine Produktion an, welche inhaltlich jedoch brandaktuelle Relevanz besitzt. Von wahren Ereignissen inspiriert, liefert Sarah Polley tiefe Einblicke in ein Kollektiv von mennonitischen Christen inmitten der Wildnis Boliviens und illustriert dialogreich den vermeintlichen Kontrast von Missbrauch und Glauben. Das Ergebnis verlangt vom Publikum eine gesteigerte Einlassungsbereitschaft ab, greift jedoch die „Me-Too“-Debatte unverkennbar auf. Mit starker Musik untermalt und darüber hinaus reduziert-ästhetisch gestaltet, erinnert vieles an eine Theaterinszenierung, in der die Wortwechsel zur Essenz werden. Die zur Einheit verschmelzende Leistung des namhaften Ensembles bildet das Herzstück. Dass keine einzige Schauspielerin eine Nominierung erhielt, ist wohl leider dem Umstand zu verdanken, dass sich die Beteiligten die Stimmen abspenstig machten. Neben Claire Foy, der erlaubt wird, mit einer energetischen Darbietung aus dem Schatten ihrer Rolle als junge Königin Elizabeth II. in „The Crown“ zu treten, bleiben vor allem Ben Whishaw als männlicher Gegenpol sowie Jessie Buckley dank starker Performances im Gedächtnis. Letzen Endes stellt „Die Aussprache“ einen überaus wichtigen Beitrag dar, wenngleich einen das Gefühl beschleicht, dass nicht das komplette Potential ausgeschöpft werden konnte.
Elvis
2022 wurden mit „Blond“, „I Will Dance With Somebody“ und „Elvis“ gleich drei Filmbiografien über Schauspiel- und Musiklegenden des 20. Jahrhunderts veröffentlicht, denen unverkennbar eines gemeinsam ist: Sie polarisieren allesamt extrem. Dass sich anhand des Letztgenannten, in dessen Zentrum der „King of Rock’n’Roll“ steht, ebenfalls die Geister scheiden, beweist der Umstand, dass er neben acht Oscarnennungen auch zwei Nominierungen für den Negativpreis „Goldene Himbeere“ erhielt. Der Gesamteindruck wirkt erschreckend eindimensional, gelegentlich sogar künstlich und hält außer aufwendigen Szenerien und ambitionierten Choreographien kaum Highlights bereit, was gerade deswegen entsetzt, weil unter Luhrmanns Leitung mit „Moulin Rouge“ einer meiner Allzeit-Favoriten entstanden ist. Obwohl das Drama mehr als zweieinhalb Stunden dauert, wirkt der Sprung von einer zur nächsten Etappe seltsam überhetzt, da die Handlung sich nicht auf ausgewählte Stationen beschränkt, sondern auf ebenjene zwei Jahrzehnte, die zwischen dem Aufstieg und dem tragischen Tod des Sängers lagen. Hinzu kommen etliche, Vita-bezogene Umdeutungen, deren Sinn sich nicht erschließt. Hinzu kommen Defizite im Hinblick auf die Besetzung. Hauptdarsteller Austin Butler ähnelt dem Mann, der bis heute fast eine Milliarde Tonträger verkaufte, nicht nur in optischer Hinsicht kaum, sondern kann nur in wenigen Szenen glänzen und driftet stattdessen häufig in karikatureske Schmierigkeit ab und sogar Tom Hanks liefert als Manager seine dürftigste Performance seit gefühlt Jahrzehnten. Unabhängig davon, ob man ein Fan des Oeuvres von Mr. Presley ist – oder nicht, wird das Porträt seiner Lebensleistung zu großen Teilen absolut nicht gerecht und es dürfte vielsagend sein, wenn die Tongestaltung als Gipfelelement zu identifizieren ist.
Living
In einer Saison voller (über-)langer Filme erweist es sich als besonders erfrischend, dass „Living“ in diesem Zusammenhang eher auf Kompaktheit setzt, jedoch nicht minder komplex gestaltet wurde. Verortet im England der Trümmerjahre infolge des Zweiten Weltkrieges, handelt es bei dem Historiendrama im klassischen Stil um eine Adaption der japanischen Verfilmung „Einmal wirklich leben“ von 1952 und bebildert das Schicksal eines Staatsdieners, der sich infolge einer Krebsdiagnose seinen Lebenstraum erfüllen möchte. Regie führte der noch nicht einmal 40-jährige Südafrikaner Oliver Hermanus, dem es gelungen ist, ein bittersüßes Werk zu kreieren, das sich mit der Frage auseinandersetzt, wie man sein vergängliches Dasein auf Erden bestmöglich nutzt. Neben feingeistigen Dialogen überzeugt vor allem das aufwendige, zeittypische Kostümdesign sowie eine symbolistische Farbgestaltung auf ganzer Linie. Zum Dreh- und Angelpunkt avancieren jedoch zwei Schauspieler. Im Alter von 73 Jahren erhielt Bill Nighy seine allererste Oscarnominierung – und das völlig zu Recht. Er agiert voller Würde und Facettenreichtum, aber hält dennoch in den entscheidenden Momenten ein tröstendes Augenzwinkern für den Betrachter bereit, dem man sich nicht entziehen kann. Hinzu gesellt sich Aimee Lou Wood, die als gutherzige, aber skurrile Schülerin in „Sex Education“ Bekanntheit erlangte, fühlt sich im Dramenbereich sichtlich wohl. Insgesamt ist „Living“ eine überaus positive Überraschung mit universeller, zu Herzen gehender Botschaft.
The Son
Nachdem der französische Landsmann Florian Zeller inmitten der Hochphase der Pandemie mit „The Father“ ein authentisches, zutiefst an die Nieren gehendes Meisterwerk schuf, das zwei Oscars abräumte, war es bloß eine Frage der Zeit, bis dessen Nachfolger Einzug in die Lichtspielhäuser hielt. Dass sich die Macher nun erneut für ein familiäres Melodram entschieden, war durchaus keine üble Idee, dennoch werden Fans des Vorgängers rasch Ernüchterung verspüren, denn der Perspektivwechsel hin zu einem gespannten Vater-Sohn-Verhältnis erweist sich als halbherzig und nur wenig inspirierend. Trotz einiger starker Szenen, vor allem im Hinblick auf Rückblenden, und eines feinfühligen Soundtracks werden wiederholt Klischees bedient und die Dialogführung bewegt sich größtenteils auf dem Niveau einer Seifenoper. Zudem wirkt der kolportierte Ansatz, dass Heranwachsende durch die Scheidung der Eltern mehr oder weniger zwangsläufig auf die schiefe Bahn geraten, mehr als grenzwertig und schwarzweißmalerisch. Wenngleich Hugh Jackman in der Hauptrolle kein Vorwurf zu machen ist, der wiederholt gegen skriptbezogene Mankos ankämpft und Sir Anthony Hopkins mit einem nur wenige Minuten andauernden Auftritt ein beeindruckendes Ausrufezeichen setzt, verschrieb sich Laura Dern ein weiteres Mal dem Overacting. Selbst unter der Prämisse, dem Nachwuchs eine Chance einzuräumen, bietet Newcomer Zen McGrath bedauerlicherweise eine maue Leistung, die phasenweise an besonders schlechtes Schultheater erinnert. Ganzheitlich betrachtet, enttäuscht „The Son“ daher in vielfacher Hinsicht.
The Whale
Gemessen am Budget ist „The Whale“ der kostengünstigste aller mehrfach um den Oscar konkurrierenden Filme in diesem Jahr, doch tritt den Beweis an, dass kleine Produktionen den Schöpfungen der großen Studios oft in nichts nachstehen. Basierend auf einem Theaterstück, beleuchtet das Drama das Leiden des Professors Charlie, der fast 300 Kilo auf die Waage bringt und sich nach Jahren der Funkstille um Annäherung zu seiner Tochter bemüht, bevor es zu spät ist. Das Gebotene zeichnet sich durch eine geduldige Inszenierung auf engem Raum, feinfühlige Klänge und veritable Dialoge aus und ist genau deswegen mitunter nur schwer zu ertragen, gerade weil der Fokus konsequent auf den weitreichenden Ursachen und Folgen von Fettleibigkeit beruht. Wie schon im Falle von Gary Oldman als Winston Churchill oder Matthew McConaughey in „Dallas Buyers Club“ sind es vor allem körperliche Transformationen von Schauspielern, die den Zuschauer nachhaltig beeindrucken. Die starke Leistung von Brendan Fraser, verborgen unter zentnerweise Make-Up, allein darauf zu reduzieren, wäre allerdings vermessen, denn seine oscarwürdige Darbietung lebt in jeder Faser von Mimik und pendelt meisterhaft zwischen innerer Zerrissenheit und Lethargie, insbesondere im Zusammenspiel mit den Drehpartnerinnen. Nicht nur das grandiose Finale lässt einen mit Sprachlosigkeit und Tränen in den Augen zurück.