Elle

Ironischerweise schuf der inzwischen 68-jährige und als Skandalregisseur titulierte Paul Verhoeven in Gestalt von „Basic Instinct“ und „Showgirls“ innerhalb von weniger als drei Kalenderjahren sowohl einen der besten als auch den vielleicht misslungensten Erotikthriller der gesamten Filmgeschichte. Ganze zwölf Jahre nach seiner bislang letzten Leinwandproduktion begab sich der Niederländer nun mit „Elle“ ein weiteres Mal auf die verschlungenen Pfade eines provokativen Genres, das im Gegenzug mit einer hohen, vorbehaltlichen Versagensquote behaftet ist. In ebendiese Falle tappt das Psychodrama um eine kompetente und geradezu kühle Firmenchefin, die urplötzlich einen herben physischen und psychischen Missbrauch erfährt, jedoch ganz und gar nicht und sorgt stattdessen für ein aufwühlendes, obsessives und komplexes Mosaik an Grenzerfahrungen, das speziell aufgeschlossenen Zuschauern lange nicht aus dem Gedächtnis entschwinden dürfte und sich konsequenterweise weder um soziale Korrektheit noch Massenverzückung schert…

„Elle“, eine französisch-deutsch-belgische, romanbasierte Gemeinschaftsproduktion konkurrierte bereits im vergangenen Frühjahr um die begehrte „Goldene Palme“ und polarisierte innerhalb des Plenums ähnlich stark wie „Nocturnal Animals“ einige Monate später, doch genau dies scheint sich in der diesjährigen Saison zu meinem ganz persönlichen Qualitätsmerkmal zu mausern. Dem filmischen Resultat gelingt es trotz seiner nicht unbeträchtlichen Lauflänge gleich in mannigfacher Weise, sich von nahezu allen vertrauten Erzählschemata zu lösen und eine düster-voyeuristische Atmosphäre zu kreieren, die an den entscheidenden Zäsuren vor tiefgreifendem Zynismus regelrecht strotzt und nicht nur des bloßen Selbstzweckes wegen Kontroversen hervorruft. Zwar erscheint insbesondere die nicht ausschließliche Skizzierung der Hauptfigur Michèle als in Mitleidenschaft gezogenes Opfer, sondern vielmehr als Sehnsüchtige, die zunehmend Gefallen an dem erotischen Rollenspiel entwickelt, auf moralischer Ebene wiederholt äußerst fragwürdig und bisweilen eine Spur zu starrsinnig, nichtdestotrotz münden die in diesem Zusammenhang vorfindbaren, wagemutigen Gedankengänge und Dialoge in Kombination mit unvorhersehbaren Wendungen darin, dass der Zweistünder zur herausfordernden Einheit zusammenwächst, in der Spannung, Familienkonflikte und eine geradezu bizarre Form der Unterhaltung nicht zu kurz kommen. Überdies liefert Kameramann Stéphane Fontaine nach „Jackie“ bereits die zweite beeindruckende Leistung in Folge und entfaltet einen geradezu meisterhaft befremdlichen Sog, der im Zusammenspiel mit routinierten Schnitten Spartenmaßstäbe deutlich übertrifft und in effektvoller Weise sämtliche Regungen der Protagonistin forciert.

Die Grande Dame Isabelle Huppert darf sich in Folge dieser außergewöhnlichen One-Woman-Show berechtigte Hoffnungen machen, in die Fußstapfen ihrer Landsfrauen Claudette Colbert, Simone Signoret und Marion Cotillard zu treten und folglich zur vierten Französin zu avancieren, die den Oscar als „Beste Hauptdarstellerin“ entgegen nehmen darf. In der Rolle des Beobachters wagt man es beinahe nicht, die Augen zu verschließen, da man ansonsten Gefahr laufen könnte, etwas von dem intensiven, facettenreichen und stellenweise sogar beängstigenden Agieren von Isabelle Huppert zu versäumen, denn diese offeriert hierin nichts anderes als eine karrieredefinierende Leistung voll von Sex-Appeal, Präsenz und ungeahnter Durchschlagskraft. Inmitten eines starken Ensembles überzeugte auch Laurent Lafitte als vermeintlicher Antagonist, während Christian Berkel sich einmal mehr als Garant für subtile Nebendarstellungen profilieren konnte.

Dass „Elle“ trotz des hochverdienten Golden-Globe-Gewinns in der fremdsprachigen Sparte nicht einmal auf der Shortlist der Academy landete, verursacht demzufolge Kopfschmerzen und Unverständnis zugleich, spricht jedoch einmal mehr dafür, dass es dem Oscargremium allzu häufig an Courage mangelt, sobald Werke auch anstößige, ambivalente Charakteristika involvieren. Aus diesem Grund möchte ich mich abschließend den Worten eines namhaften Kritikers der New York Times vollends anschließen, der überaus profund resümierte, dass „Elle“ ein querdenkerisches, kompromissloses und zu Diskursen anregendes „…Werk von geradezu charmanter Perversität“ darstellt, welches seit vergangenem Donnerstag vereinzelt auch in deutschen Lichtspielhäusern bewundert werden darf – und fernab aller Präferenzen auch unbedingt sollte.

F / D / BE 2016 – 130 Minuten
Regie: Paul Verhoeven
Genre: Drama / Erotikthriller
Darsteller: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Charles Berling, Virginie Efira, Christian Berkel, Judith Magre, Jonas Bloquet, Alice Isaaz, Raphaël Lenglet
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